Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

Schwächen und Suchtprobleme

Kontrollbedürfnis: Wer loslässt, kriegt sich besser in den Griff

Wer alles und alle kontrollieren will, hat Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens – und oft auch vor sich selbst.

Bea ist ein Mensch mit klaren Prinzipien: Ihre Tage sind genau durchgeplant, in ihrem Haus hat alles seinen festen Platz, und in Sachen Weltanschauung und Politik hat sie ihre fixen Ansichten. Sie denkt nicht nur für sich, sondern auch für ihren Mann Andi. Sie wählt seine Kleidung aus und organisiert seine Freizeit: Bea hat ihren Liebsten fest im Griff.

Und wehe, wenn er mal zu spät nach Hause kommt, die neue Polstergarnitur nicht schön findet oder ihr den Brief seiner Schwester nicht zum Lesen gibt. Dann hagelt es Vorwürfe im Stil von «Bei allem, was ich für dich mache, ist das nun der Dank!» Oder verfällt in schmollendes Dauerschweigen. Oder sie bekommt Migräne. Bis Andi, von Gewissensbissen geplagt, nachgibt. Erst jetzt stimmt die Welt für Bea wieder, denn jetzt hat sie wieder das Gefühl, Kontrolle über Andi zu haben.

Mitunter rüde Methoden

Es gibt Paare, da geht es im Kampf, den Partner im Griff zu haben und ihn klein zu halten, ziemlich arg zu und her: Etwa wenn sie ihm nachspioniert, oder er ihr keinen Zugriff auf das Bankkonto gewährt, oder wenn sie ihn systematisch schikaniert, oder er sie schlägt.

Die Ursache dahinter ist immer Angst: Angst vor dem, was der Partner tun könnte, wenn er aus freien Stücken handeln würde. Bea hat Angst, dass Andi ihr sorgfältig arrangiertes Lebensbild zerstören könnte.

Nichts soll sich verändern

Wenn er sich frei bewegen würde, käme das ganze Bild in Bewegung. Das will Bea nicht. Sie will, dass die Dinge «immer so bleiben, wie sie schon immer waren». Denn insgeheim fürchtet sie die unvorhersehbaren Wendungen des Lebens, denen sie machtlos ausgesetzt ist. Also versucht sie, das Unberechenbare so klein wie möglich zu haltgen, und kreiert ein Lebensbild, in dem nicht das gilt, was ist, sondern das, was sein sollte. Ein Bild, über das sie die Kontrolle hat.

Doch das Leben ist nur begrenzt kontrollierbar. Und es ist eine Illusion, Menschen kontrollieren zu können. Darum greifen Menschen mit Kontrollbedürfnis mitunter zu drastischen Methoden, die bis hin zur körperlichen Gewalt gehen. Der Wunsch nach Kontrolle wird zur Kontrollsucht; die Betroffenen unterliegen dem Zwang zu kontrollieren: Der Zwang kontrolliert sie, sie verlieren letztlich die Kontrolle über sich selbst.

Loslassen bringt Farbe ins Leben

Das Kontrollieren, das Festklammern, macht das Leben auch eintöniger. Warum? Angenommen, der Dirigent wirft den Taktstock weg und lässt alle Musiker drauflosspielen. Nach einer Zeit des Improvisierens finden die Instrumente zu einer neuen, farbenfroheren Melodie.

Wenn Bea ihren Taktstock wegwirft, wird ihre Ehe viel spannender, denn Andi kann jetzt seine eigenen Ideen einbringen. Und ihr Innenleben wird reichhaltiger, wenn sie das zulässt, was sich da in ihr selbst, ohne ihren kontrollierenden Einfluss, bewegt.

Die Ängste hinter dem Kontrollbedürfnis angehen

Wenn sich Bea daran macht, Kontrolle loszulassen, muss sie auch lernen, damit umzugehen, was sich da in ihr bewegt. Das können unter Umständen auch Dinge sein, die sie versucht, wegzudrücken: Gefühle. Gedanken. Persönlichkeitsanteile, mit denen sie schon lange nicht klar gekommen ist.

Je grösser das Kontrollbedürfnis, desto grösser die Angst vor dem, was wäre, wenn losgelassen wird. Es lohnt sich, dass anzugehen. Denn das drängt sich immer wieder nach vorn. In stressigen Situationen. Oder wenn man krank ist. Oder sonst nicht so gut drauf ist.

Das heisst: Wer die Ängst hinter dem Kontrollbedürfnis angeht, gewint echte Kontrolle. Und damit hat man die einzige Person im Griff, die man jemals im Griff haben kann: sich selbst.

Tipps für Menschen mit starkem Kontrollbedürfnis

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