Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

Familie und Erziehung

Wenn erwachsene Geschwister aufeinander neidisch sind

Wenn Geschwister im Erwachsenenalter neidisch aufeinander sind, wirken alte Sehnsüchte aus der Kindheit. Die Lösung heisst Ablösung.

«Tina kann kein gutes Haar an mir lassen!» Kim ärgert sich über die jüngere Schwester. «Dabei bin ich immer nett zu ihr!» Das bringt nichts, denn Tina ist neidisch auf Kim. Zielstrebig geht Kim im Leben voran und hat ihre Karriere ebenso im Griff wie ihre Beziehung. Tina dagegen kämpft ständig – mit den Männern, mit der Berufswahl, mit dem Gewicht. «Warum kriegt Kim alles geschenkt und ich nicht?»

Wie kommt es zu Geschwisterneid? Kinder kämpfen um die Liebe der Eltern. Diesen stellt sich die schwierige Aufgabe, jedem zu zeigen, dass es einzigartig und liebenswert ist, und ihm in seiner Position des älteren oder jüngeren Kindes klare Privilegien zuzugestehen. Das klappt nicht immer, und fast jedes Kind kennt den Frust darüber, nicht genug zu bekommen, nicht die Nummer eins zu sein.

Die Schwester für die eigene Benachteiligung bestrafen

Kim war neidisch auf Tina, weil Tina die Eltern mit ihrem originellen Witz zum Lachen brachte. Tina war neidisch auf Kim, weil Kim immer für gute Noten gelobt wurde. Beide waren immer neidisch auf das, was die andere ins Rampenlicht stellte. Eigentlich fühlten sie sich von den Eltern benachteiligt. Diesen Frust richteten sie gegeneinander – weil es viel zu beängstigend gewesen wäre, die Eltern, von denen sie abhängig waren, als Bösewichte zu sehen. Jede sah die andere als Wurzel des Übels und versuchte, sie zu bestrafen: Sie wollte nicht nur das haben, was die andere gerade glücklich machte. Sie wollte es ihr wegnehmen, sie wollte, dass die andere es nicht hatte.

Wenn sich so ein Kleinkrieg ins Erwachsenenalter hinzieht, gehts immer noch ums Gleiche: die Liebe der Eltern. Darum ist ein wirksames Mittel dagegen, sich von Eltern abzulösen und selbst zu finden. Das heisst, sich mit den Eltern auseinander zu setzen. Ihnen zu verzeihen. Das anzuerkennen, was sie einem gegeben haben. Sich ein neues Leben zu suchen, das der eigenen Person besser gerecht wird. Weil man damit eine Zufriedenheit erlangt, die es einem erlaubt, anderen ihr Glück zu gönnen. Kim ist das gelungen. Sie fand Erfüllung im Beruf, und sie fand einen Mann, in dessen Leben sie die Nummer eins ist. So verrauchte ihr Neid auf die Schwester. Davon ist Tina weit entfernt.

Wenn Reden nicht möglich ist, hilft Abstanz

Was kann Kim tun? Diskretion walten lassen. Wenn sie ihr Glück Tina unter die Nase hält, wird Tina ihr das garantiert übel nehmen. Es hilft auch, Tina ehrlich von ihrem eigenen Neid zu erzählen: «Ich war früher so neidisch auf dich. Du warst die Interessantere.» Der Austausch über die Kindheit und die kindlichen Sehnsüchte hilft, ein Verständnis füreinander zu entwickeln. Dieses kann in schwierigen Situationen entschärfend wirken – zum Beispiel bei Familientreffen, wo oft alte Gefühle aufflammen.

Wenn keine Annäherung möglich ist, hilft eine vorübergehende Distanzierung. Weil Tina besser zu sich selbst finden kann, wenn sie sich nicht ständig mit Kim vergleicht. Denn sie muss sich nicht nur von den Eltern, sondern auch von der Schwester ablösen, mit der sie in ihrem Neid verstrickt ist. Erst wenn sich diese Bande gelöst haben, ist es wirklich möglich, aufeinander zuzugehen.

Tipps gegen Geschwisterneid