Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

Familie und Erziehung

Ablösung von den Kindern: Wer nicht loslässt, verliert

Um eine gute Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern aufzubauen, müssen Eltern lernen, loszulassen.

«Ferien! Familienfrei! Ist das nicht herrlich?» Lo sitzt mit ihrer Freundin Tina in einem Strassencafé in Rom und schlürft genüsslich einen Cappuccino. Doch Tina macht sich Sorgen wegen ihres Sohnes Leon. Der Achtzehnjährige ist seit zwei Wochen auf einer Amerikareise. «Da kann ihm so viel passieren!» Lo hingegen findet Leons Freiheitsdrang «grossartig». Ihr Sohn Dani ist 34 und wohnt immer noch bei ihr.

«Leon ist noch ein halbes Kind!», jammert Tina. «Aber er will erwachsen werden! Er will selbstständig sein!», ruft Lo. «Dani hat das jahrelang aufgeschoben.» Er war zu Hause in einer Rolle gefangen: Er spielte den Vermittler, denn in der Ehe der Eltern kriselte es. Er spürte, dass seine Mutter ihn brauchte. Loyalität und Schuldgefühle hemmten seine Ablösung. Das haben die drei in der Familientherapie herausgefunden. «Dort entwirren wir unsere verstrickte Beziehung. Langsam lösen wir uns voneinander ab.»

Aus der Wir-Verschmelzung zu Ich-Inseln

Tina überlegt. Welche Rolle nimmt Leon bei ihr ein? Er gibt ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, jemand zu sein. Ihr wird klar, dass sich hinter der Angst um ihren Sohn die Angst davor verbirgt, dass er sie verlässt und sie auf sich selbst zurückgeworfen wird. «Wenn er geht, verliere ich so viel», seufzt sie. Lo meint: «Du verlierst deine Rolle als Mutter eines Kindes. Aber dein Kind verlierst du nicht. Kinder verliert man nur, wenn man sie nicht loslässt. Dann bleibt ihnen nur noch die Flucht: Sie brechen den Kontakt völlig ab oder flüchten sich in Krankheiten und Süchte.»

Loslassen. Ein einfaches Wort – eine schwere Aufgabe. Loslassen heisst: die Kontrolle über die Kinder aufgeben, sie «selber machen lassen», auch wenn ihr Lebensstil völlig anders ist. Das Mutter- und Vatersein neu definieren: als gleichberechtigte Erwachsene, die interessiert sind, aber sich nicht einmischen, die unterstützen, sich aber nicht ausnutzen lassen. Loslassen heisst sich abgrenzen, aus der Wir-Verschmelzung Ich-Inseln entstehen lassen. Sich von einer Rolle verabschieden und zu sich selbst finden. Loslassen ist ein jahrelanger, manchmal lebenslanger Prozess.

Die Kinder sind einem nichts schuldig

«Und als Dank ziehen die Kinder in die Welt hinaus», meint Tina bitter. Lo kontert: «Gibt es einen schöneren Dank? Dein Kind wird ein selbstständiger Mensch! Je unabhängiger ihr beide voneinander werdet, desto unbeschwerter wird auch euer Kontakt zueinander. Aber so richtig interessant wirst du wahrscheinlich erst wieder als hilfsbereite Oma.» Lo hat Recht: So ist der Mensch nun mal – die Kinder sind ihm das Wichtigste. Das heisst nicht, dass er seine Eltern nicht liebt oder achtet. Aber jede Generation investiert am meisten in die Generation nach ihr. Nur so überlebt die Menschheit.

Tina fallen ihre eigenen Eltern ein, die ihr ständig das Gefühl vermitteln, sie sei eine undankbare Rabentochter. Das will sie Leon ersparen. Sie will ihr Bestes tun – als Mutter und als Mensch. Sie blinzelt nachdenklich in die Sonne. Die Angst um ihren Sohn hat sie für den Augenblick vergessen. Sie merkt, dass es hier nicht um ihn geht. Es geht um sie selbst.

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