Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

Beziehungstipps

Eigenständigkeit schafft mehr Nähe in der Beziehung

Beziehungen sind auf Dauer glücklicher, wenn die Partner eigenständig und vom Urteil des anderen unabhängig bleiben. Erst dadurch wird wahre Nähe möglich.

Kim liebt den Norden, Leo den Süden. Sie treibt Sport, er spielt Schach. Sie besucht Konzerte, er sieht sich Tiersendungen an. Er geht auf Kulturreisen, sie auf Radtouren. Die beiden zelebrieren ihre Verschiedenheit. Sie sind seit Jahren ein glückliches Paar.

Am Anfang war das anders: Da sahen sie nur, was sie verband. Denn Verliebte wollen verschmelzen, eins werden. Erst wenn der Beziehungsalltag eintritt, spüren sie, dass sie zwei unterschiedliche Wesen sind. Und das kommt dem Traum von Harmonie und Verbundenheit in die Quere. Um ihn zu erhalten, passt man sich einander an.

Vom Partner abhängig

Und dabei gehen Menschen bisweilen sehr weit – so weit, dass sie ganz in der Rolle des Beziehungspartners aufgehen und sich als eigenständige Menschen aufgeben. Dadurch hängen sie immer mehr vom Partner und von dessen Urteil ab, was wiederum ihre Angst steigert, den Partner zu verlieren – und so passen sie sich noch mehr an. So ist kaum noch persönliche Bewegung möglich, man fühlt sich eingeengt und strebt voneinander weg – lebt nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander. Der Wunsch nach Verbundenheit führt also in die Entfremdung. Zusätzlich steigt der Frust, weil die eigene Persönlichkeit zu kurz kommt. Dafür gibt man dem Partner die Schuld. Es kommt zu Streitereien. Der Wunsch nach Harmonie führt also in die Entzweiung.

Diese Situation ist eine Gefahr, die – mehr oder weniger stark – in fast jeder Beziehung lauert. Das beste Mittel, sie abzuwenden, heisst Eigenständigkeit. Eigenständigkeit erlaubt uns, uns vom Gegenüber abzugrenzen, und öffnet so die Tore zu echter Nähe. Was also vordergründig nach Trennung riecht, ist die Voraussetzung für eine gute Beziehung. Warum? Eigenständigkeit bedeutet, sich selbst zu kennen und zu sich zu stehen.

Eigenständige Menschen bewahren – wie Kim und Leo – in der Beziehung ihre eigene Erlebniswelt. Dadurch gewinnen sie an Unabhängigkeit und Selbstsicherheit und können besser akzeptieren, dass der Partner unterschiedliche Meinungen, Interessen und Gefühle hat.

Die eigene Meinung, die eigene Wertschätzung gewinnt gegenüber dem Urteil des Partners an Bedeutung. Das gibt ihnen den Mut, dem Partner gegenüber offener und ehrlicher zu sein – eine Grundvoraussetzung für Nähe. Sie können diese Nähe zulassen, weil sie als Menschen mit stärker ausgebildeter eigener Persönlichkeit weniger Gefahr laufen, sich zu verlieren: Sie können einander in Liebe entgegenkommen, ohne sich selbst dabei aufzugeben.

Jedem seine Welt

Eigenständigkeit zu entwickeln und in einer Beziehung zu bewahren, ist eine hohe Kunst – ein Ideal, das man immer anstreben sollte. Grundvoraussetzung ist das Bewusstsein, dass man mit dem Partner nicht eins, sondern zwei unterschiedliche Personen ist und dass das Ziel nicht «Verschmelzung», sondern «miteinander» heisst. Denn das Rezept für eine gute Partnerschaft heisst nicht «zwei Hälften machen ein Ganzes», sondern «zwei Menschen bauen ein Haus».

Tipps zu mehr Eigenständigkeit in der Beziehung

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