Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

19.01.2006

Jedem das Seine

Wer die Werte anderer Menschen respektieren lernt, verhält sich geschickter. Und kommt erst noch persönlich weiter.

Kürzlich waren Rahel und Mia im Restaurant. Der Kellner ging seine Arbeit sehr gemächlich an. Nach 15 Minuten Warten zitierte Mia ihn an den Tisch: «Wie lang sollen wir eigentlich noch auf die Speisekarte warten?» Mit finsterer Miene und eiskalter Stimme unterstrich sie ihren Unmut. Ihre Freundin wollte in den Boden versinken. So was von unhöflich! Denn die immer auf Harmonie bedachte Rahel schweigt lieber, als Mängel zu kritisieren und damit unangenehm aufzufallen. Mia indes setzt auf Ehrlichkeit und findet, dass das Personal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden soll, wenn der Service schlecht ist.

Werte wandeln sich

Hier prallen zwei völlig verschiedene Ansichten über das richtige Verhalten aufeinander. Wer hat Recht? Beide. Welches Verhalten man für angemessen erachtet, hängt davon ab, was einem wichtig ist, auf welche Werte man setzt. Früher, da schrieben uns strenge Gesellschaftsnormen in Form von Knigge und Bibel noch genau vor, wie wir zu denken und handeln hatten. Heute unterscheiden sich Wertevorstellungen je nach Persönlichkeit, Erziehung und Lebensumständen zum Teil erheblich. Und sofern keine persönliche Grenze massiv verletzt wird, gibt es kein «richtig» oder «falsch». Was heisst: Unsere Werte sind zu einer Sache der persönlichen Haltung geworden.

Trotzdem hat der Mensch die Angewohnheit, seine Werte als allgemein gültig anzusehen und zu vergessen, dass andere anders denken. Darum betrachtet er seine Mitmenschen durch die eigene Brille und missversteht ihr Verhalten: Durch Mias Brille betrachtet, ist Rahel zu feige zum Reden. Und durch Rahels Brille betrachtet, ist Mia zu unhöflich zum Schweigen. Beide tun das Verhalten der anderen als Schwäche ab, dabei widerspiegelt es nur deren Werte: Rahel glaubt an Freundlichkeit und Harmonie, Mia hingegen an nackte Ehrlichkeit.

Viel Wert ist den beiden aber auch ihre Freundschaft. Dieser zuliebe könnte sich jede ein bisschen mehr für die Werte der anderen interessieren und diese als ihren eigenen ebenbürtig respektieren. Und aus Respekt voreinander könnten die beiden im gemeinsamen Ausgang ihr Verhalten ein wenig aufeinander abstimmen. «Dann bin ich mir selbst nicht mehr treu!», befürchtet Mia. Unsinn. Sie muss nur ein wenig schauspielern. Untreu wird sie ihren Werten deshalb noch lange nicht. Es zeugt viel mehr von sozialem Geschick, wenn sie ihr Verhalten der jeweiligen Situation anzupassen weiss.

Einen Versuch wert

Und so setzt Mia das nächste Mal, wenn sie mit Rahel ins Restaurant geht, eine freundliche Miene auf und sorgt mit charmantem Smalltalk dafür, dass der Kellner ihren Tisch nicht vergisst. Davon profitiert nicht nur die Freundschaft mit Rahel, sondern auch sie selbst. Denn es tut immer mal wieder gut, in gewissen Situationen neue Verhaltensweisen zu erforschen: Mia kann ihre neue Höflichkeit austesten, und Rahel kann öfter ehrlich ihre Meinung sagen und schauen, wie sich das anfühlt. Fazit: Wer der Andersartigkeit der Freundin offen begegnet, vergrössert sein Verhaltensrepertoire – und versteht ihre Welt besser.

Tipps für mehr Toleranz