Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

17.11.2005

Sagen Sie, was Sache ist

Es gibt Menschen, die andere mit raffinierten Fragen manipulieren. Dabei sind sie ganz einfach zu feige, ihre eigenen Wünsche deutlich zu äussern.

Vreni, so könnte man meinen, ist sehr um das Wohl ihrer Mitmenschen besorgt. Letzthin, als sie mit ihrem Bekannten Tom im Restaurant war und dieser sich gerade setzen wollte, meinte sie: «Würdest du nicht lieber auf dem anderen Stuhl sitzen? Dort ist die Sicht viel schöner!» Tom wechselte den Stuhl. Und Vreni nahm dort Platz, wo Tom sich anfangs hatte setzen wollen. Sehr aufmerksam, nicht wahr? Nein: Im Grunde wollte Vreni lieber auf dem Stuhl sitzen, den Tom gewählt hatte. Und darum versuchte sie ihren Bekannten dazu zu bewegen, lieber auf dem anderen zu sitzen.

Scheinheilige Frage

Der Versuch, anderen einzureden, was sie wollen, kann auch mit einer scheinbar unschuldigen Frage anfangen: «Welchen Film möchtest du sehen?», fragt Vreni ihren Mann Max. Dieser meint: «Den Krimi im Ersten.» – «Aber Max, du findest diese Serie doch langweilig!», ruft Vreni: «Der Spielfilm im Zweiten ist viel spannender!» Es ist sonnenklar, welches Programm Vreni sehen will. Mit ihrer Frage erhofft sie sich von Max eine Bestätigung. Wo diese ausbleibt, versucht sie, ihn dazu zu bewegen, so zu denken wie sie.

Warum sagt Vreni ihrem Bekannten oder ihrem Mann nicht einfach, wo sie sitzen oder welchen Film sie sehen will? Vielleicht widerspricht es ihrem Harmoniebedürfnis, wenn sich ihre Mitmenschen nach ihren Wünschen richten, obwohl sie andere Wünsche haben. Darum versucht sie, sie auf ihre Seite zu ziehen. Oder vielleicht meint sie, sich auf direktem Weg nicht durchsetzen zu können, und will daher «nachhelfen», indem sie das Denken der anderen zu beeinflussen versucht. Selbst wenns nur darum geht, dem Gast das letzte Kuchenstück schmackhaft zu machen: «Willst du das nicht noch? Ich weiss doch, dass du darauf Lust hast!» Falsch: Man weiss es nicht. Man irritiert die anderen nur mit diesem Verhalten. Max etwa nervt es völlig, wenn Vreni ihn fragt, welches Programm er sehen will, nur um ihm dann zu erklären, dass das nicht stimmt. Es nervt ihn, dass sie meint, besser als er zu wissen, was er will. Er fühlt sich nicht respektiert.

Bestimmt, aber höflich

Ja: Wer seine Mitmenschen respektvoll behandelt, lässt ihre Wünsche und Gedanken gelten und versucht nicht, ihnen andere einzureden. Er steht zu seinen eigenen Wünschen und teilt diese offen mit. Viele scheuen sich genau davor und finden den Mut nur in der Wut: «Nie darf ich das Fernsehprogramm bestimmen! Jetzt will ich auch mal!» Damit handeln sie sich den Missmut der anderen ein. Erfolgreicher ist eine höfliche Formulierung: «Wäre es dir recht, wenn wir heute den Spielfilm sehen würden? Ich hätte total Lust darauf.»

Wie jeder Mensch muss auch Vreni damit leben, dass sie mit ihren Mitmenschen immer mal wieder in einem Interessenskonflikt steht. Sie sollte dankbar akzeptieren, wenn andere Kompromisse eingehen und sich nach ihr richten. Andererseits sollte sie dazu bereit sein, sich auch mal nach anderen zu richten. Denn damit Vreni mit ihren Mitmenschen auskommt, müssen diese nicht so denken wie sie. Aber es muss ein Gleichgewicht aus Geben und Nehmen bestehen.

Reden Sie nur für sich selbst