Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
29.09.2005 9
Frauen, die sich in ihrer Beziehung nach dem Märchenprinzen und damit einem Retter sehnen, haben oftmals viel zu viel um die Ohren.
Pia ist ein Mensch, der immer funktioniert. «Ich muss stark sein», das war seit je ihre Devise. Und jetzt, wo sie allein erziehende, berufstätige Mutter ist, umso mehr. Dabei hat sie zurzeit tief das Bedürfnis, ganz schwach zu sein. Sich fallen zu lassen. Doch sie meint, sie könne sich das nicht leisten. Sie erkennt ihr Bedürfnis nicht an – obwohl ihre Reserven aufgebraucht sind und sie seit längerem schon auf Notstrom läuft.
Und jetzt hat sie Edi kennen gelernt. Sie merkt, dass das tief gehen könnte. Sie hat Angst. Weil sie sich schon in dieser ersten Phase der Annäherung ohne ihn verloren fühlt. Sie sehnt sich danach, in diese Beziehung zu fallen. Sich einfach fallen zu lassen. In seine Arme. Denn Edi strahlt so eine Stärke aus. Er erscheint stark genug, sie aufzufangen, wenn sie zusammenbricht, und er wird für sie funktionieren.
Abhängigkeit als Folge
So verständlich Pias Sehnsucht auch ist, so wenig geeignet ist sie als Basis für eine Beziehung. Denn im Grunde sucht Pia in Edi gar keinen gleichwertigen Partner, sondern würde ihn gerne als Mittel zum Zweck für seelische und sonstige Unterstützung benutzen. Pias Angst ist berechtigt. Denn in ihrem momentanen Zustand würde sie direkt in eine Abhängigkeit hinein rutschen: Wenn eine Beziehung damit anfängt, dass sich einer beim anderen zu sehr anlehnt, dann läuft er Gefahr, sich an diese Krücke zu gewöhnen und sie immer zu brauchen. Doch der Partner kann nicht immer Krücke sein. Sonst bricht er zusammen. Oder er grollt dem anderen, weil er selbst nie schwach sein darf.
Manche sonnen sich in der Position des Retters und brauchen einen Partner, der von ihnen abhängig ist. Das geht nur dann gut, wenn sich beide in ihren Rollen wohl fühlen. Das ist oft nicht lange der Fall. Denn so gern der eine zu Beginn das Zepter abgibt, so schlecht tut das seinem Selbstwertgefühl. Und dafür gibt er dann dem Partner die Schuld. Oder er emanzipiert sich allmählich, taucht aus der Krise auf – und das verträgt dann der andere wieder nicht. Er fühlt sich nämlich abgewertet.
Ferien statt Beziehung
Darum braucht Pia in ihrer derzeitigen Krise keine Beziehung: Damit verschafft sie sich nur noch mehr Stress. Was sie braucht, sind Ferien. Ferien vom Funktionieren. Regelmässig. Damit die Batterien sich immer wieder aufladen können. Sie beweist wahre Stärke, wenn sie zu ihrer Schwäche steht und ihr häppchenweise nachgibt. Damit es nicht zum Zusammenbruch – oder zum heimlichen Bedürfnis danach – kommt. Zwei Dinge sollte sie trainieren: Erstens «Nein» zu sagen, wenn sie etwas nicht tun kann oder will. Zweitens: um Hilfe zu bitten. Freunde. Bekannte. Fachstellen. Je mehr ihr helfen, desto besser, denn umso weniger schwer ist das Gewicht, das jeder Einzelne tragen muss.
Und Edi? Mit Edi sollte sich Pia Zeit lassen. Ihm erklären, was ihre Ängste sind. Wenn Edi sie als gleichwertigen Menschen interessant findet, lässt er sich auch nicht dazu verführen oder zwingen, den Retter zu spielen. Sondern ist bereit, allmählich eine Freundschaft aufzubauen – egal, wo diese hinführt.