Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

08.09.2005

Vom Sinn der Gewissensbisse

Wer wegen einer Gewohnheit ständig unter einem schlechten Gewissen leidet, bestraft nur sich selbst und lenkt vom Hauptproblem ab.

Tina kommt immer zu spät. Immer. Man wartet und ärgert sich. Bis sie ausser Atem anfliegt: «S-o-r-r-y!!» Bevor man zur Standpauke ansetzen kann, fährt sie fort: «Ich weiss, dieses ewige Zuspätkommen ist mies von mir! Ich hab ein total schlechtes Gewissen. Ich muss mich da ändern!» «Schon gut», seufzt man und verzeiht Tina, die ja offenbar schon genug an sich selbst leidet.

Moni liebt Süsses. Ihre Waage liebt sie nicht. Jedes Mal, wenn sie ein Stück Sahnetorte verzehrt, plagt sie das Gewissen. «Ich sollte nicht!», sagt sie sich – und tut es trotzdem. Einsicht, heisst es so schön, sei der erste Schritt zur Besserung. Das schlechte Gewissen zeigt, in welche Richtung der zweite Schritt gehen könnte: «Sei pünktlich!», warnt es Tina. «Iss keine Sahnetorte!», mahnt es Moni.

Einfache Selbstbestrafung

Die beiden sind also einsichtig. Den zweiten Schritt machen sie trotzdem nicht. Weil er anstrengend und irgendwie beängstigend ist. Wenn sie sich bessern wollte, müsste Tina so lästige Begriffe wie «Zeitplanung» und «Beeilung» in ihren Gedankenschatz aufnehmen. Und Moni müsste die Leere – und all die unangenehmen Gefühle, die sie birgt – aushalten, die sich mit der Sahnetorte so schön überdecken lässt.

Da ist es einfacher, alles beim Alten zu lassen. Das schlechte Gewissen dient den beiden sozusagen als Eintrittsbillett dafür. «Du solltest das nicht! Du bist schlecht!», schimpft es. Mit dieser Selbstbestrafung fügen sie sich so viel an eingebildetem Schmerz zu, dass der Genuss damit bezahlt ist. Indem Tina ihr schlechtes Gewissen anderen lauthals vorlebt, schlägt sie gleich noch eine zweite Fliege: «Wenn ich mich ausschimpfe, tuns die anderen nicht!», lautet die Devise.

Das Eintrittsbillett hat seinen Preis: Moni und Tina lügen sich selbst an. Statt sich einzugestehen, dass sie ihr Verhalten geniessen, machen sie sich vor, sie litten darunter. Tina geniesst es, sich treiben zu lassen und zu trödeln, und Moni geniesst jeden Tropfen zart schmelzender Sahne auf der Zunge. Niemand tut freiwillig etwas, was er nicht irgendwo, tief unten, tun will. «Aber ich kann nicht anders!», finden die beiden empört. Auch das ist eine Selbstlüge: Jeder mündige Erwachsene kann anders. Die Frage ist, ob er will.

Zu den Folgen stehen

«Ich will nicht anders!» – Dieser Satz hingegen ist gerechtfertigt. Es ist das Recht eines jeden, sich nicht zu verändern. Nur sollte er dann zu seinem Verhalten und dessen Folgen stehen. Wenn Tina trödeln will, sollte sie dazu stehen, dass sie damit anderen auf die Nerven fällt. Wenn Moni sich lieber Sahnetorten als unangenehmen Gefühlen zuwendet, sollte sie dazu stehen, dass die Waage dadurch ein paar Kilos mehr anzeigt.

Das empfiehlt sich sehr. Denn der Schmerz, den sich die beiden mit ihrem schlechten Gewissen zufügen, ist zwar eingebildet, doch er tut echt weh. Das ist auf die Dauer nicht gesund. Das schlechte Gewissen sollte nicht zum ständigen Begleiter werden, sondern immer als Aufruf nach Veränderung gesehen werden: «Ändere dein Verhalten!», mahnt es, «und wenn du das nicht willst, dann ändere deine Einstellung dazu!»

Wenn Sie das Gewissen plagt