Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

26.05.2005 1

Gratwanderung Ehrgeiz

Ein gesundes Mass an Ehrgeiz ist ein ausgezeichneter Leistungsmotor. Doch wer immer der Beste sein will, verbaut sich den Weg zum Erfolg.

Schon in der Schule brach er in Tränen aus, wenn er keine Sechs schrieb. Als zweites Kind von vier kämpfte er in seiner Familie immer um Aufmerksamkeit und Anerkennung. Er bekam sie, wenn er besser als die anderen war. Er lernte: Nur wenn ich die Nummer eins bin, kann ich in meiner Familie bestehen. Diesen sozialen «Überlebenskampf» übertrug er auf Schule, Beruf und Beziehungen. Dass seine Eltern, Lehrer und Arbeitgeber die Leistungsmesslatte immer hoch ansetzten, bestärkte ihn nur in seiner Überzeugung.

Überhöhte Ansprüche

Dummerweise sind Sechser im Leben selten, und darum fühlt er sich meist nicht gut genug. Dieses Gefühl kompensiert er damit, dass er noch grösseren Ehrgeiz entwickelt. In den Bereichen, in denen er am schwächsten ist, ist der Ehrgeiz am grössten.

Geht seine Rechnung auf? Nein. Erstens, weil er dauernd unter Stress steht. In diesem Zustand ist sein Hirn zu Höchstleistungen schlicht nicht fähig, es bräuchte dazu ein gewisses Mass an Entspannung. Zweitens müsste er sich, um wirklich gute Leistungen zu erbringen, voll auf die Aufgabe, voll auf das, was er tut, konzentrieren. Doch dieses ist für ihn nur Mittel zum Zweck, wichtiger ist das Ziel: Sieger zu sein. Damit sind ihm die überlegen, die sich in den Dienst einer Aufgabe stellen, die den Weg als das Ziel betrachten. Drittens verhält er sich seinen Mitmenschen gegenüber egoistisch. Denn er sieht sie nicht als Kollegen, sondern als Konkurrenten, die ihn bedrohen. immer befürchtet er, sie seien ihm überlegen. Darum will er sie – notfalls auch mit unfairen Mitteln – aus dem Feld schlagen.

Indes, die besten Resultate erzielt nicht der Einzelkämpfer sondern der Teamspieler, der erkennt, dass eine Gruppe immer stärker als eine Einzelperson ist. Der Teamspieler hilft anderen bei ihrem Weiterkommen, und er kann auch auf die Hilfe anderer zählen.

Die Taktik des übermässig Ehrgeizigen bewirkt genau das Gegenteil dessen, was er sich ersehnt: in einer Gruppe anerkannt zu werden, in einer Gruppe zu bestehen. Er wird einsam. Denn die anderen finden ihn unsympathisch. Und es fällt ihm schwer, Freundschaften aufzubauen – zu bedroht fühlt er sich von seinen Mitmenschen, zu sehr neidet er ihnen ihre Qualitäten und Talente.

Neue Massstäbe setzen

Gesund ist: den eigenen Ehrgeiz auf ein verträgliches Mass herunterzuschrauben: Wenn er seine Energie und seinen Ehrgeiz in etwas steckt, dann tut er dies, weil es ihm wirklich liegt, und nicht einfach nur, weil andere es besser können. Er sieht die, die in einem für ihn interessanten Gebiet besser sind, als Vorbilder an und eifert ihnen nach. Er scheut sich weder davor, sie um Hilfe zu bitten, noch davor, anderen seine Hilfe anzubieten.

Das Wichtigste ist: Er akzeptiert, dass andere besser sind. Er akzeptiert seine Schwächen und Grenzen und gibt sich auch mit einer Fünf oder gar einer Vier zufrieden – ja er verabschiedet sich völlig vom Ziel, der Beste sein zu wollen. Stattdessen setzt er sich das Ziel, sich zu verbessern. Dadurch kommt er am weitesten – und hat auch noch Spass an der Sache.

Tipps für allzu Ehrgeizige