Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

12.05.2005

Die Schuldfalle

Eltern sollten es sich zugestehen, Fehler zu machen. Sonst entwickeln sie nur Schuldgefühle und belasten damit ihre Kinder.

Gaby hat in Sachen Männer viele schlechte Entscheidungen gefällt, unter denen nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder litten. Sie macht sich Vorwürfe. «Ich hätte euch das nicht antun dürfen. Es tut mir so Leid», sagt sie oft zu ihnen, voller Schuldgefühle. Gaby hofft, dass die Kinder tun, was sie selbst nicht kann: ihr verzeihen.

Eigentlich fürchtet sie sich vor möglichen Anschuldigungen ihrer Kinder. Indem sie sich selbst beschuldigt, nimmt sie ihnen das sozusagen ab. Geht es ihr gut dabei? Nein. Das erwartet sie aber auch nicht. Denn sie findet, es dürfe ihr nicht gut gehen. Sie findet, sie verdiene Strafe. Der Schmerz der Schuldgefühle ist wie eine Strafe. Gaby bestraft sich selbst. Wieso? Damit andere es nicht tun.

Strafen sind demütigend

Die Überzeugung, für begangene Fehler Strafe zu verdienen, haben viele Menschen der mittleren und älteren Generation mit der Muttermilch aufgesogen. Heutzutage freilich warnen die Pädagogen vor Bestrafungen. Denn wer Strafe kriegt, wird gedemütigt und entmachtet. Moderne Eltern bringen ihren Kindern vielmehr bei, die Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen – das heisst, zu den Folgen ihres Tuns zu stehen und sich aktiv daran zu beteiligen, die Sache wiedergutzumachen.

Auch Gaby versucht, ihre Kinder auf diese Weise zu Eigenständigkeit und Verantwortungsbewusstsein zu erziehen. Was sie dabei nicht realisiert: Ihre Kinder erleben Gaby als einen Menschen, der es sich nicht zugesteht, Fehler wiedergutzumachen. Sondern sich selbst zu Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen verdammt. Die Krux dabei: Auf diese Weise lernen ihre Kinder, dass ebendies ein angemessenes Verhalten ist. Schliesslich ist die Mutter das wichtigste Vorbild für ihren Nachwuchs.

Kinder sind sowieso schnell bereit, Schuldgefühle zu entwickeln, denn sie beziehen alles, was sie erleben, auf sich. Wenn es der Mama schlecht geht, fragen sie sich sofort: «Bin ich dran schuld?» Statt ihnen diese Angst zu nehmen, doppelt Gaby ungewollt nach – indem sie sich in ihrer Gegenwart Vorwürfe für das macht, was sie ihnen angetan hat. Damit vermittelt sie ihnen: «Mir geht es wegen euch schlecht.» Und irgendwann werden die Kinder sie wirklich anschuldigen. Weil sie wegen ihr Schuldgefühle haben. Und weil die Mutter ihnen ein Vorbild war, das ihnen keine Lust darauf gemacht hat, erwachsen zu werden, sprich Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen.

Zepter in die Hand nehmen

Es ist für Gaby nie zu spät, einen neuen Gang einzuschalten. Es ist nie zu spät, den Kindern das vorzuleben, was sie ihnen beibringen will. Es ist nie zu spät, zu dem zu stehen, was sie getan hat. Nämlich das Zepter in die Hand zu nehmen und die Dinge zu verbessern – und zwar für sich selbst. Das beste Vorbild ist nicht die unfehlbare Mutter – die gibt es sowieso nicht. Das beste Vorbild ist die Mutter, die im Verlauf ihres Lebens aus Krisen und Fehlern dazulernt und die Dinge für sich so ändert, dass sie sich zu einem glücklicheren Menschen entwickelt. So eine Mutter macht ihren Kindern Mut und Lust darauf, erwachsen zu werden.

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