Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
14.04.2005
Wer anderen wirklich helfen will, tut dies am besten, indem er gar nichts tut. Ausser sie darin zu bestärken, dass sie sich selbst helfen können.
Wann müssen Menschen gerettet werden? Wenn sie sich nicht selbst helfen können. Zum Beispiel, wenn sie verunfallt oder schwer erkrankt sind. Im Alltag sind derartige echte Notfälle zum Glück selten. Doch Rettungsaktionen werden viel, viel öfter gestartet. Dauernd rufen Menschen «Hilf mir!» oder «Ich brauch dich!». Oder sie legen eine Hilflosigkeit oder eine seelische Not an den Tag, die signalisiert: «Ich bin ein Opfer, ich kann nicht selber!»
Zum Beispiel Heidi. Diese kommt von ihrem Mann, der sie schlecht behandelt, nicht los. Es sei so schwierig, neu anzufangen, wo er ihr doch alles genommen habe, jammert sie ihrer Schwester Ruth vor. Ruth wird zur Retterin: Sie lässt Heidi bei sich wohnen und nimmt ihr Leben für sie in Angriff. Sie besorgt ihr einen Anwalt, schreibt Bewerbungen – sie, die voll beschäftigte Karrierefrau, rackert sich für ihre Schwester ab, während diese tatenlos herumsitzt.
Falsche Nothilfe
Eines Tages bricht Ruth zusammen: Hexenschuss, lautet die Diagnose. Kurzfristig kehren sich die Vorzeichen: Rührend umsorgt Heidi ihre Schwester. Doch nach Ruths Genesung hängt Heidi wieder durch. Schliesslich findet Ruth eine Wohnung und eine Stelle für sie. Einige Wochen später erfährt sie, dass Heidi die Stelle nie angetreten hat und zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Mit der patzigen Erklärung, das sei alles Ruths Idee gewesen – sie selbst hätte ja immer zu ihrem Mann zurückgewollt.
Diese Undankbarkeit ist typisch für das Rollenspiel zwischen Opfer und Retter: So verlockend es ist, sich in die Arme eines Retters fallen zu lassen, auf die Dauer gibt die «Ich-kann-nicht-selber»-Haltung dem Opfer das Gefühl, es sei ein Versager. Es entwickelt Neid und Groll auf den Retter. Dieser wird sauer, weil er sich ausgenützt fühlt. Das Spiel endet im Krach. Auf dem Weg dorthin kann es wiederholt zum Rollentausch kommen: Weil er nicht Nein sagen kann, bleibt dem Retter oft nichts übrig, als selbst in die Opferrolle zu rutschen und das Opfer damit in die Retterrolle zu zwingen – so geschehen bei Ruths Zusammenbruch.
Abgrenzen lernen
Es ginge auch anders. Statt sich durch Pflicht- oder Schuldgefühle in das Opfer-Retter-Spielchen verwickeln zu lassen, könnte Ruth klare Grenzen ziehen und sich dabei an zwei Faustregeln halten: «Tu nichts, worum dich dein Gegenüber nicht gebeten hat» und «Tu nie mehr als dein Gegenüber». Statt für Heidi zu entscheiden, was Heidi will, und es für sie zu erledigen, sollte Ruth den Weg der Schwester respektieren – so holprig und von Rückschritten geprägt er auch ist – und ihr zeigen, dass sie an ihre Fähigkeit, sich selbst zu helfen, glaubt.
Das heimliche Ziel des Retters ist, Macht über das Opfer zu haben. Wer indes wirklich helfen will, sieht das Gegenüber als gleichgestellt an und macht es sich zum Ziel, es zu stärken. Der wahre Helfer gibt seine eigene Schwäche zu. Zwei Sätze – beharrlich wiederholt – helfen Heidi am meisten: «Du kannst es» und «Ich kann es nicht für dich tun». Da mag Heidi zwar zunächst trotzig und wütend reagieren – doch diese Energie wird sie dazu einsetzen, sich selbst zu helfen.
Tun Sie nichts, worum das Gegenüber Sie nicht bittet. Unterstützen Sie es darin, seinen eigenen Weg zu gehen.
Tun Sie nie mehr als Ihr Gegenüber. Stehen Sie zu Ihren Grenzen. Sagen Sie «Ich kann das nicht für dich tun».
Erlauben Sie dem Gegenüber, auf Sie wütend zu sein, wenn Sie es nicht retten. Es wird diese Energie dazu einsetzen, sich selbst zu helfen.