Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

10.2.2005

Ja zur eigenen Schönheit

Viele Menschen denken, sie seien hässlich. Weil sie nicht dem Idealbild entsprechen, das ihnen eingeredet wurde. Betrachten Sie sich neu.

Verzweifelt blickt sie in den Spiegel. Dieses Gesicht! Diese Nase! Hoffnungslos. Immer fühlt sie die kritischen und mitleidigen Blicke der anderen auf sich. «Du siehst heute so gut aus», hört sie zwar oder «Du hast eine super Figur». Doch es ist ihr so peinlich, wie die anderen ihr vormachen wollen, dass sie attraktiv sei. Einmal nämlich, vor Jahren, war eine Freundin ehrlich zu ihr. «Deine Nase ist zu gross», lautete das Urteil, «auf einer Schönheitsskala von eins bis zehn bist du eine Fünf.» Dieser Schlag hinterliess eine tiefe Narbe. Er bestätigte ihr, was sie schon lange ahnte: Dass sie nicht schön genug sei. Und nicht gut genug.

Das Maximum erreichen

Denn Schönsein heisst für sie perfekt sein. Die Erwartungen im Elternhaus waren hoch. Liebe spürte sie nicht einfach so, sondern nur, wenn sie etwas geleistet hatte. Und ein schönes Äusseres wurde als Leistung anerkannt. «Hoffentlich wirst du einmal so schön wie deine Schwester» – fast wie ein Befehl klang das Lob der Mutter. Und wenn sie wütend war, hiess es: «Das macht dich hässlich! Lächle! Nur mit einem hübschen Gesicht kommst du gut an.»

«Nein, ich kann nicht», spürte sie, «so schön und perfekt werde ich nie sein!» Heute verachtet sie sich dafür. Sie hat sich die Erwartungen der Mutter einverleibt. Sie weiss: «So, wie ich aussehe, hab ich keine Chancen.» Chancen zu genügen. Geliebt zu werden. Diese resignierte Haltung hat auch etwas Beschützendes: Denn wer keine Chancen hat, muss gar nicht erst versuchen, etwas zu erreichen – und riskiert daher, nicht zu versagen.

So sehr sie jedoch unter ihren «Schönheitsmängeln» leidet, so sehr braucht sie sie also auch – als Schutzschild gegen ihren überwältigenden Erwartungsdruck. Das «Ich kann nicht!» enthält ein heimliches «Ich will nicht!» Im Grunde ihres Herzens will sie nicht dem Idealbild entsprechen müssen, das ihr die Mutter eingeflüstert hat. Verständlich, dass sie da Komplimente über ihr Äusseres zurückweist und nur das weniger Schöne hören will.

Das eigene Zerrbild

Wie jeder Mensch hat sie ein verzerrtes Bild von sich. Da sie sich selbst nicht von aussen sieht, kennt sie sich nur spiegelverkehrt oder von mehr oder weniger gelungenen Fotos. Darum hat ihr Bild von sich weniger damit zu tun, wie sie tatsächlich aussieht, und mehr damit, wie sie sich fühlt. Sie fühlt sich so lange nicht schön und liebenswert, wie sie ihr Bild an einem Idealbild misst, das sie nie erreichen kann. Weil es nicht ihr eigenes ist.

«Schönheit liegt in den Augen des Betrachters», besagt ein Sprichwort. Das heisst: Es liegt in ihrer Macht, das, was sie im Spiegel sieht, schön zu finden. Nicht dank Schminke, Diät und Schönheitsoperationen. Sondern, indem sie sich von den Erwartungen anderer verabschiedet. Sie hat ihre eigene Schönheitsskala, die nicht von Eltern, Freundinnen oder Massenmedien diktiert wird. Auf dieser Skala ist sie dann eine Zehn, wenn sie Ja zu ihrer eigenen Schönheit sagt. Ja zur eigenen Person, zu ihren eigenen Möglichkeiten und ihren eigenen Chancen. Wenn sie sich aus tiefster Seele sagen kann: «Ich liebe dich – einfach, weil du bist.»

Lernen Sie sich kennen