Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
20.1.2005
Wenn wir uns bedroht oder überfordert fühlen, können wir oft nicht mehr richtig denken. Ein paar einfache Tricks für einen klaren Kopf.
Der Mensch der Urzeit war Bedrohungen ausgesetzt, die es heute nur noch in Alpträumen gibt. Zum Beispiel Bestien wie dem Säbelzahntiger. Oder kannibalischen Fremdlingen. Oder wilden Gruppenmitgliedern, die sich in der Rangordnung nach oben boxten. Da blieb ihm nur die Wahl zwischen Flucht, Verteidigung und Angriff. Das sind sehr energieaufwändige Verhaltensweisen, für die der Körper – genauer: das vegetative Nervensystem – einen Notgang einschalten muss.
In diesem Notgang werden Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, das Herz schlägt höher, der Atem geht schneller und flacher, der Blutdruck steigt, das Blut fliesst in die Muskeln – damit kräftig zugedroschen oder schnell davongerannt werden kann. Das Hirn wird jetzt recht sparsam durchblutet, es denkt nur noch in ganz einfachen Kategorien: «Gefahr! Überleben! Flucht! Zuschlagen!»
Neue Zeit, neue Sitten
Wir schreiben das Jahr 2005. Die Säbelzahntiger sind ausgestorben; der soziale Umgang ist in der Regel erheblich zivilisierter als in der Urzeit. Und doch reagiert der Mensch heute noch genau gleich wie damals, wenn er sich bedroht oder überfordert fühlt. Überall wittert sein Urinstinkt dann den Säbelzahntiger – etwa im morgendlichen Stossverkehr, im näher rückenden Abgabetermin, im stundenlang schreienden Baby oder in der rechthaberischen Gattin.
Kopf und Körper stellen sich also auch im modernen Alltagsstress auf Flucht, Verteidigung oder Angriff ein. Dummerweise ist dies hier oft unsinnig, ja sogar schädlich: Es führt zu Verkehrsunfällen, zur Flucht in den Alkohol, zur Gewalt an Kindern, zu zerstörerischen Ehekrächen und vielem Unschönen mehr. Statt einem Hirn auf Sparflamme, das überall den Feind erkennt, bräuchte der Mensch jetzt einen klaren Kopf – damit er zwischen echten und eingebildeten Feinden unterscheiden, logisch argumentieren und sinnvolle Lösungen erarbeiten kann.
Wer wieder denkfähig werden will, muss daher das vegetative Nervensystem in den Ruhegang zurückschalten. Das funktioniert, indem man den Körper sozusagen mit sich selbst überlistet: Einige Tricks geben ihm das Gefühl, dass Ruhe und Entspannung herrschen. Der einfachste Trick: langsam und tief durchatmen und dabei jeden Atemzug zählen.
Ein Spaziergang hilft
Wos möglich ist, sollte man sich zudem für kurze Zeit der Krisensituation entziehen. Spaziergänge oder Ausdauersport fördern das Durchatmen und bauen Stresshormone ab. Eiswürfel oder warmes Wasser an den Händen sowie warme Fussbäder helfen, den Ausgleich im Nervensystem wiederherzustellen. Und als Radikal-Gangschaltung in der Akutkrise empfiehlt die bekannte Verhaltenstherapeutin Marsha Linehan «Luft anhalten und das Gesicht in eine Schüssel mit kaltem Wasser tauchen».
Am besten übe man diese Tricks in aller Ruhe, so dass sie in Akutsituationen schnell zu Hand sind. Dann sind sie sind so einfach wie wirksam. Denn so schnell der menschliche Urinstinkt einen Säbelzahntiger wittert, so schnell vergisst er ihn auch wieder.