Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

30.12.2002 3

Positiv aufs alte Jahr blicken

Ende Jahr ziehen viele Bilanz – und bereuen das eine oder andere. Dabei haben sie damals mit gutem Grund so gehandelt. Und Wichtiges dazugelernt.

Das Jahresende ist traditionellerweise eine Zeit des Rückblicks. Wer zurückblickt, tut das oft nicht mit besonders gnädigen Augen. Voll Reue und Selbstvorwürfen grämt man sich über verschlafene Gelegenheiten, falsche Entscheidungen, verfehlte Ziele und übersehene Fettnäpfchen. «Das hätte ich nicht tun sollen!», heisst es, oder «Hätte ich das doch anders getan!».

Ein kurzer Ausflug ins Reich der Grammatik: Es gibt zwei Arten, sprachlich in die Vergangenheit zu blicken: mit dem Indikativ – der Wirklichkeitsform – oder mit dem Konjunktiv – der Möglichkeitsform. Der Konjunktiv «Ich hätte getan» drückt aus, was damals unter bestimmten Voraussetzungen hätte geschehen können, der Indikativ «Ich habe getan» drückt aus, was wirklich geschah. Wer mit dem Konjunktiv in die Vergangenheit blickt, konzentriert sich auf verpasste Möglichkeiten, wer den Indikativ wählt, stellt sich der Wirklichkeit.

Nachtrauern hilft nichts

«Ich hätte die Stelle nicht wechseln sollen!», wirft sich etwa die Buchhändlerin Ines schon seit Wochen vor. Sie vergeudet wertvolle Energie damit, der verpassten Möglichkeit, bei der alten Stelle zu bleiben, nachzutrauern. Besser wäre es, sie würde sich auf das konzentrieren, was wirklich war: «Ich habe die Stelle gewechselt», würde sie sich sagen. Und nachdoppeln: «Weil es so sein sollte.»

Warum sollte es so sein? Weil alles aus guten Gründen passiert. Auch Ines' Stellenwechsel: Die alte Stelle in einer Reisebuchhandlung erfüllte sie nicht mehr. Die neue Stelle in einem grossen Verlag schien der richtige Karriereschritt zu sein. Heute erkennt Ines, dass ihr dort der Kontakt mit den Kunden fehlt. Wenn sie das damals gewusst hätte, hätte sie sich eine andere Stelle in einer Buchhandlung gesucht. Doch sie wusste es nicht. Und heute weiss sie es nur, weil sie damals in einen Verlag gewechselt hat. Wenn sie das nicht getan hätte, würde sie es heute wohl bereuen: «Ich hätte es versuchen sollen!», würde sie sich vorwerfen.

Erfahrungen gesammelt

Durch ihren Stellenwechsel ist Ines um eine Erfahrung reicher. Nur das zählt. Denn die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu fällen, setzt Erfahrenheit voraus. Und Erfahrungen werden oft auf Grund weniger guter Entscheidungen gemacht. Und dass diese Entscheidungen nicht so gut waren, lehrt einzig die Erfahrung. Rückblickend fragt man sich «Wie konnte ich nur ...?» und vergisst dabei, dass man damals noch nicht eines Besseren belehrt war. Und dass das, was heute nicht mehr nachvollziehbar scheint, damals aus guten Gründen geschah.

Wer auf der Suche nach einem Vorsatz für das kommende Jahr ist, könnte sich vornehmen, fortan jedes rückblickende «Das hätte ich nicht tun sollen!» oder «Hätte ich das doch anders gemacht!» in ein «Ich habe das so gemacht, weil es sein sollte» umzuformulieren. Und sich zu überlegen, welche Gründe er dazu hatte und welche Lehren er daraus zog.

Und wer es ganz genau nimmt, kann für 2005 ein Tagebuch der Patzer und Fehlentscheide anlegen. Titel: «Dinge, die ich aus gutem Grund getan habe – und was ich daraus für die Zukunft gelernt habe.»

Beklagen Sie sich nicht