Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

18.11.2004 7

Es gilt das gesprochene Wort

Den Märchenprinzen, der jeden Wunsch von den Lippen abliest, gibt es nicht. Wenn Ihre Erwartungen erfüllt werden sollen, sprechen Sie sie aus.

Am Anfang stand der Liebestraum. Und dann kam das Erwachen. Sie hatte gedacht, nach der Heirat könne sie ihre Karriere weiterverfolgen. Doch, o Schreck – er erwartete ein Heimchen am Herd! Die junge Ehe kriselte. Weil beide Partner Erwartungen aneinander hatten, die nicht erfüllt wurden.

Erwartungen erwachsen einer romantischen Vision von Liebe und Verschmelzung. Darin erahnt und erfüllt der Partner heimliche Wünsche. Er spült unaufgefordert das Geschirr ab, er befriedigt unausgesprochene Bedürfnisse im Bett und so weiter. Nach der Devise «Wer mich liebt, weiss, was ich brauche!» geht man davon aus, dass es im Kopf des Partners ziemlich ähnlich aussieht wie im eigenen. Mit Liebe hat das wenig zu tun – eher mit der Projektion der eigenen Bedürfnisse in den Partner.

Keine Telepathie

Dass der Partner Gedanken lesen könne, ist ein Irrglaube, dem Frauen öfter als Männer erliegen. Männer scheinen sich eher an das Motto «Es gilt das gesprochene Wort» zu halten. Unromantisch – und äusserst brauchbar: Wenn sie ihm sagt, was sie will, kommt er ihr meist gern entgegen, denn obwohl er in ihren Augen ein unsensibler Holzklotz ist, mangelts ihm nicht am guten Willen.

Erwartungen sind also oft unrealistisch. Und manchmal völlig unangemessen: «Er soll meine Unsicherheiten wettmachen», «Er soll gut dastehen, damit ich selbst einen besseren Eindruck mache», «Er soll stark sein», «Er soll meine Probleme lösen», «Er soll mich glücklich machen» – solche heimlichen Träume vom Partner, dem rettenden Held, gehörten in die Welt der Märchen und Sagen. Denn der Partner ist nur ein Mensch; das heisst, er kann keine Gedanken lesen, er hat Schwächen, und er hat Bedürfnisse.

Daher sollten Beziehungspartner ihre Erwartungen so oft wie möglich – und vor allem, bevor sie sich wirklich aufeinander einlassen – miteinander besprechen. Beide sollten ehrlich sein. Und beide sollten einander glauben. Wenn er ihr sagt: «Ich erwarte, dass du deine Karriere für die Familie aufgibst», dann sollte sie sich hüten, zu glauben, dass er seine Meinung schon noch ändern wird.

Kompromisse finden

Verschiedene Bedürfnisse und Erwartungen führen notgedrungen zu Verhandlungen und Kompromissen. Das ist die Realität einer Liebesbeziehung. Statt der magischen Erfüllung heimlicher Wünsche gelten klare Abmachungen. Je konkreter eine Abmachung, desto sicherer wird sie eingehalten: Die Abmachung, dass er heute Abend das Geschirr spült, ist realistisch, jene, immer und immer füreinander da zu sein, viel zu vage.

Wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, führt das zu Frust. Darum gilt: «Je weniger ich erwarte, dass der Partner meine Bedürfnisse erfüllt, desto öfter werde ich positiv überrascht.» Erwarten darf man einzig, dass Grundwerte eingehalten werden: offen, ehrlich und treu zu sein, einander zu akzeptieren, zu respektieren und so gut wie möglich zu unterstützen und, natürlich: sich an Abmachungen zu halten. All das sollte in einer Liebesbeziehung gelten – sofern die Partner es miteinander vereinbart haben. Abgesehen davon dürfen sie nur eins erwarten: das Unerwartete.

Treffen Sie Abmachungen