Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

1.7.2004 7

Ertragen Sie die Wahrheit?

Wer nach einer ehrlichen Meinung fragt, sollte sich zuerst darüber klar werden, ob er mit der Wahrheit überhaupt umgehen kann.

«Sag mir ehrlich: Was hältst du davon?» Eine gefährliche Frage. Denn wer so ausdrücklich nach einer ehrlichen Meinung fragt, bekommt bisweilen tatsächlich die ungeschönte Wahrheit geliefert. Und die klingt manchmal hart. Da findet der Gefragte zum Beispiel, dass man heute einen modischen Fehlgriff getan hat oder dass er «an deiner Stelle» schon längst die Scheidung eingereicht hätte.

Derartige Meinungen nehmen manche nicht so gelassen zur Kenntnis. Sie reagieren verunsichert oder verletzt. Freilich, sie wollten die Meinung schon hören – aber bitte nur, wenn sie mit ihrer eigenen übereinstimmt. Oder wie ein höfliches Kompliment daherkommt. Oder angenehme Passivität verschreibt, statt zu anstrengendem Handeln aufzufordern.

Die richtige Definition

Doch was ist eine Meinung schon anderes als ein bisschen Würze, die jemand zu einem Menü gibt, dessen Koch er selbst nicht ist. Sie dient dem Empfänger nur dazu, die Ideen anderer mit der eigenen zu vergleichen. Unterschiedliche Meinungen machen Beziehungen spannend und befruchten den Austausch zwischen Menschen.

Im Idealfall. Doch manch einer sucht in der erfragten Meinung ein bisschen mehr. Da spielt etwa Irene ihrem frisch gebackenen Gatten ihre Lieblings-CD vor. Der findet die Musik «ehrlich gesagt ziemlich öde». Irene ist geknickt. Warum? Weil in ihrem Traumbild von romantischer Eintracht beide den gleichen Geschmack und die gleichen Ansichten haben. Sie fragte also nicht nach einer Meinung, sondern nach einem Beweis für die Nähe zum Partner.

Oder Daniela. «Sag mal, wie findest du eigentlich meine Wohnungseinrichtung?», fragt sie ihre beste Freundin. Zur Antwort hagelt es Kritik. Daraufhin ist Daniela völlig verunsichert. Obwohl sie sich bis anhin in ihrer Wohnung pudelwohl gefühlt hat. Sie hat nicht nach einer Meinung, sondern nach Bestätigung gefragt. «Du hast einen guten Geschmack!» wollte sie hören.

Moni schliesslich wendet sich Rat suchend an ihre ältere Schwester Christa: Beat hat sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen will. Soll sie zusagen? Christa findet die Idee «super». Moni hält sich an ihre Schwester. Doch das Date mit Beat wird ein Reinfall. Moni wirft Christa vor: «Du hast mir gesagt, dass ich mit Beat ausgehen sollte!» Wie bitte? Christa hat doch nur ihre Meinung geäussert! Ja, stimmt. Aber Moni las darin eine Anweisung. Sie hatte ihrer Schwester einen Entscheid delegiert, den sie selbst nicht fällen wollte.

Bloss eine Meinung

Eine ehrliche Meinung ist weder ein Liebesbeweis noch eine Bestätigung noch eine Anweisung – sie ist eine ehrliche Meinung. Wer danach fragt, sollte sich daher zuerst bewusst darüber werden, ob er darin nicht mehr lesen will und schon ein vorgefasstes Bild dessen hat, was er hören will. Ob er bereit ist, Ansichten zu hören, die sich von den eigenen unterscheiden. Und ob er zu seiner eigenen Meinung stehen kann, anstatt die Ideen anderer Menschen blind zu übernehmen und danach zu handeln: Die Meinungen der anderen gehören ihnen.

Die Verantwortung für sein Handeln aber trägt er selbst.

Hinterfragen sie sich selbst