Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

1.4.2004

Frühjahrsmüdigkeit: Nur keine Eile

Wer sich jetzt im Schneckentempo vorwärts bewegt, anstatt Vollgas zu geben, entkommt der Frühjahrsmüdigkeit.

Der Frühling kommt! Der Winterschlaf ist vorbei, alles schreit nach Aufbruch und Umbruch. Doch ausgerechnet jetzt überfällt viele bleierne Müdigkeit. Kein Wunder: Der Stoffwechsel läuft auf Hochtouren, die Hormone sind durcheinander. Der Mensch ist noch auf Winter eingestellt und muss sich auf Sommer umstellen. Das ist anstrengend. Das macht schlapp. Und: Das braucht Zeit.

Doch damit haben viele ihre Mühe: Zeit? Nicht im Frühling! Jetzt ist Tempo angesagt! «Herr Doktor, was kann ich gegen die Frühjahrsmüdigkeit tun?» Der Arzt verschreibt Vitamine, frische Luft, Bewegung und viel Schlaf. Der Patient jammert: «Aber warum fühle ich mich so deprimiert?» Ein Zeichen der Erschöpfung, das gehe wieder vorbei, erklärt der Arzt. Spätestens im Juni. Ein bisschen Geduld müsse sein Patient schon haben.

Fieber statt Frühlingsgefühle

Geduld? Bis im Juni? «Nie und nimmer!», entscheidet der Patient und kontert mit Hyperaktivität. Nur um, wenig später, mit hohem Fieber im Bett zu landen. Grippe, erklärt der Arzt. «Das kann ich mir nicht leisten! Nicht jetzt! Haben Sie ein Gegenmittel?» Der Arzt lächelt: «Eine Grippe dauert ohne Tabletten eine Woche. Mit Tabletten dauert sie sieben Tage. Haben Sie Geduld.» Schon wieder Geduld!

Ach, der Mensch von heute ist schon ein armes Wesen. Wie gut hatte er es doch vor viertausend Jahren. Damals hörte die Welt noch hinter dem nächsten Berg auf, und die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung erschöpften sich bei Frass, Trank und dem Austausch von Intimitäten. Ja, damals hatte er noch schön viel Zeit für alles. Heute wird ihm schwindlig, wenn er nur in den Veranstaltungskalender blickt. Bei all den heutigen Angeboten kann er gar nicht mithalten. Kein Wunder, dass er da mit Erschöpfungsdepression und Krankheit die Notbremse zieht.

Es gibt die Anekdote vom Indianer, der in der Prärie Autostopp macht. Ein Weisser nimmt ihn mit. Nach hundert Meilen will der Indianer wieder aussteigen. Sein Chauffeur ist entgeistert: «Hier? Hier ist doch nichts. Kein Haus, gar nichts!» Aber der Indianer besteht aufs Aussteigen: «Ich muss mich jetzt hinsetzen und warten, bis meine Seele nachgekommen ist.»

Im Schneckentempo vorwärts

Ja, die Indianer sind gescheit. Sie lassen sich nicht durch irgendwelche Tempoangaben beirren, sondern hören auf ihr eigenes. Die Maschine Mensch ist so langsam wie eine Schnecke. Seit abertausenden von Jahren. Und sie wird nicht schneller, Technologieboom hin oder her. Jeder, der schon mal eine Umgewöhnungs- oder Trauerphase durchgemacht hat, der sich von etwas Altem verabschiedet und etwas Neues gelernt hat, der eine Veränderung oder eine Entwicklung erlebt hat – kurz, jeder erwachsene Mensch weiss: Alles braucht seine Zeit.

Auch die Umstellung im Frühling. Anstatt sich zum Patienten zu erklären und die Frühjahrsmüdigkeit zu bekämpfen, lässt man sie gescheiter zu und erlaubt sich die Zeit, zu entspannen, Nickerchen zu machen und geduldig zu warten, bis die Maschine sagt: «So. Jetzt bin ich auf Sommer eingestellt.» Und siehe da: Plötzlich geniesst man den Frühling. Und plötzlich läuft einem die Zeit nicht mehr davon. Denn nur nicht genossene Zeit ist verlorene Zeit.

Tipps zur Langsamkeit