Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
25.3.2004
Verzichten Sie in Ihrem Beziehungsleben auf Annahmen. Checken Sie lieber die Realität.
Sonntagabend für Sonntagabend gehen Mena und Robert zum Italiener essen. Danach haben sies im Ehebett so richtig schön miteinander. Ein bewährtes, genussvolles Sonntagsritual. – Wirklich? Nein: Eigentlich denkt Robert nach Pizza und Rotwein nur an Schlaf. Das Schäferstündchen strengt ihn vor allem an. Aber er geht davon aus, dass Mena es sich wünscht. Was er nicht weiss, ist, dass ihre eigene Befriedigung beim mechanischen Ablauf der sonntäglichen Bettroutine auf der Strecke bleibt. Sie macht Robert zuliebe mit.
Das «Abilene-Paradox»
Wie kann das sein? Da tun zwei Menschen füreinander Dinge, die beiden keine Freude machen. Management-Spezialist Jerry B. Harvey nannte das Phänomen «Abilene-Paradox», nach einem Erlebnis mit seiner Familie: Die Harveys fuhren eines sengend heissen Tages 80 Kilometer durch Texas ins Kaff Abilene, um dort in einer Kantine essen zu gehen. Nach der Rückkehr stellte sich heraus, dass niemand für diese Reise, geschweige denn das fettige Essen gewesen war. Der Entscheid, zu fahren, fiel nur, weil alle annahmen, die anderen wollten es so.
Das Abilene-Paradox grassiert in Ehen, Familien, Freundescliquen und Betrieben. Es ist deshalb ein Paradox, weil eigentlich alle einverstanden sind. Sie wissen es einfach nicht. Und so tun alle etwas, was niemand tun will. Weil sie Andeutungen und Scherze falsch verstanden haben. Weil sie mit Höflichkeitsfloskeln und -lügen auf den Holzweg befördert wurden. Oder weil sie sich an alte, längst verjährte Meinungen oder Vorlieben der anderen halten.
Kurz: Das «Abilene-Paradox» baut auf Missverständnissen und Fehlannahmen auf. Das beste Gegengift ist das offene Gespräch. Fragen wie «Versteh ich richtig, dass du...?», «Findest du das immer noch gut?» oder «Was hättest du denn noch lieber?» wirken ebenso Wunder wie Aussagen der Art «Ich möchte mal was anderes» oder «Ich hätte das gern so und so». Dazu braucht es nur Mut zur Ehrlichkeit.
Doch die Angst ist gross, einander zu verletzen, zu missfallen, zu entsetzen – kurz, ein eingespieltes Team zu bedrohen und einander zu verlieren. In Erwartung des Schlimmen, das passieren könnte, wenn sie ihre Meinung sagen würden, bewegen sich Menschen daher gemeinsam auf Holzwege, die in Unzufriedenheit und Langeweile versinken oder in Vorwürfen enden, weil Wochen, Jahre dadurch verloren gingen, dass jeder gegen sich selbst gehandelt hat.
Bedürfnisse mitteilen
Darum: Wer sich, wie Mena und Robert, dabei ertappt, dem anderen zuliebe zu handeln, tut gut daran, nachzufragen, was der andere wirklich will, und ihm mitzuteilen, was die eigenen Bedürfnisse sind. Ehrlichkeit muss nicht brutal sein. Der richtige Tonfall und die richtige Formulierung wirken Wunder. Die Grundaussage sollte sein: «Was wir haben, ist gut. Wie könnten wir es noch besser haben?»
Was, wenn sich im Gespräch herausstellt, dass Wünsche und Meinungen wie befürchtet auseinander klaffen? Was, wenn Mena was Bestimmtes will und Robert was anderes? Dann müssen eben Kompromisse ausgehandelt werden. Dann muss jeder ab und zu dem anderen zuliebe zurücktreten. Aber jetzt weiss er wenigstens, dass er es wirklich dem anderen zuliebe tut. Und der andere weiss es wirklich zu schätzen.