Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

19.2.2004

Boten der Nacht

Wer die eigenen Träume deuten kann, lernt sich selbst besser kennen. Führen Sie ein Traumtagebuch.

Bea träumt, dass ihr Mann Tom alle Fische im gemeinsamen Aquarium verhungern lässt und ihr verbietet, sie zu füttern. In der gleichen Nacht träumt Tom, dass ein Fremder mit langem Messer in sein Haus eindringt. Tom will fliehen, doch seine Beine sind wie Blei. Am Morgen fragen sich beide, warum sie das alles zusammengeträumt haben.

Eine Frage, die sich viele stellen. Wer sie beantworten will, muss sich ein wenig mit der Sprache und der Struktur von Träumen befassen. Ein Traum ist ein vielschichtiges Gebilde. Er kann angefüllt sein mit Erlebtem desselben Tages. Oder ein Thema ansprechen, das einen Träumer schon länger beschäftigt. Oder gar jahrelang Verdecktes aufwühlen.

Bilder entschlüsseln lernen

Träume sprechen in Bildern: Diese Bilder sowie die darin auftretenden Figuren sind nicht, was sie zu sein scheinen, sondern stehen für Gefühle oder abstrakte Begriffe. Gewisse Bilder wiederholen sich in den Träumen vieler Menschen, und doch sollte jeder seiner eigenen Symbolsprache auf die Spur kommen. Denn weil alles Geträumte der Fantasie des Träumers entspringt, ist die Kulisse des Geschehens das eigene Ich. Und die einzelnen Mitspieler sind nichts als Persönlichkeitsanteile von ihm selbst.

Wenn Bea ihren Traum derart «übersetzt», sieht sie vielleicht im Aquarium etwas Tiefes, Lebendiges und in den Fischen etwas Buntes, Verspieltes. Sie erkennt das als ihre sinnliche Seite, die sie pflegen möchte. Im Traum verbietet ihr das Tom. Wofür steht dieser Rollenspieler? Sie merkt, dass er ihre kühle, strenge Seite darstellt. Beas Traum handelt also nur vordergründig von einem Konflikt mit Tom. In Wahrheit geht es um einen Konflikt mit sich selbst.

Jeder Mensch würde diesen Traum anders – nämlich auf seine Person bezogen – erklären. Darum kann jeder nur seine eigenen Träume deuten. Es lohnt sich jedoch, sie jemandem zu erzählen, denn dieser besitzt mehr Abstand zum Traumgeschehen und kann mit Fragen wie «Was bedeutet das für dich?» oder «Was hat diese Figur mit dir zu tun?» helfen, die Metaphern zu verstehen. Es hilft ebenfalls, Träume aufzuschreiben und immer wieder zu lesen, weil man immer wieder Neues entdeckt. Wer dies über längere Zeit hinweg tut, merkt, dass sich gewisse Bilder in zahlreichen Träumen wiederholen.

Träume wollen gehört werden

Es gibt massenhaft Theorien über Träume und ihren Sinn. Tatsache ist, dass sie Einblick ins Unterbewusste geben. Vielleicht um sich bemerkbar zu machen, sind sie oft ziemlich dramatisch – wie bei Tom. Was es mit seinem Traum auf sich haben könnte? Am Tag leidet Tom an einer heimlichen Angst vor einer Konfrontation, im Traum kommt diese Angst zur vollen Blüte: In der Erwartung des Schlimmsten will er – vergeblich – fliehen, statt zu erforschen, ob der Fremde wirklich böse ist.

Träume, insbesondere «schlechte», zeigen Konflikte, Ängste, innere Missstände auf. Es steht in der Macht jedes Einzelnen, diese anzugehen. Bea etwa erkennt, dass sie ihre sinnliche Seite mehr leben möchte. Toms Traum zeigt auf, dass er seine Angst vor der Konfrontation überwinden sollte. Auf diese Weise kann jeder Mensch seine Träume aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Und sie als Impulse für die Lebensgestaltung im Hier und Jetzt benutzen.

Tipps fürs Traumdeuten