Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

05.2.2004

Die Krippe als Grossfamilie

Wenn beide Eltern berufstätig sind, ist die Kinderkrippe eine gute Alternative für ihre Kinder – denn sie lernen dort viel.

Die Nachbarinnen tuscheln. Sie akzeptieren nicht, dass Dora ihren vierjährigen Sohn Mario an fünf Nachmittagen pro Woche in die Kinderkrippe bringt. «Sie ist nicht mal allein erziehend!», «Sie müsste nicht arbeiten, ihr Mann verdient genug!», «Sie vernachlässigt ihr Kind!». Derartige Aussagen veranschaulichen die in der Nachbarschaft herrschende Ansicht, dass Dora eine Rabenmutter sei.

Jede Mutter empfindet anders

Dora hat sich das früher, von schlechtem Gewissen geplagt, bisweilen selbst gesagt. Doch irgendwann schloss sie Frieden mit der Tatsache, dass nun mal nicht alle Mütter gleich sind. Wo die eine gar nicht genug um ihre Kinder sein kann, braucht die andere mehr Zeit für sich. Wo die eine völlig im Muttersein aufgeht, will die andere Beruf und Freizeit nicht aufgeben.

Dora wusste immer, dass zufriedene Frauen bessere Mütter sind und dass ihr persönlicher Frust Gift für ihr Kind war. Und darum wollte sie wieder ins Berufsleben einsteigen. Ihr Mann Beni unterstützte diesen Plan. Doch er konnte bei seiner Arbeit nicht reduzieren. Grossmutter-Einsatz lag nicht drin – beide Grossmamis waren berufstätig. So entschieden sich die beiden für eine Kinderkrippe.

Da spielte noch eine andere Überlegung mit hinein. «Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf», lautet ein afrikanisches Sprichwort. Ein Dorf, das ist ein anregendes Umfeld mit Bezugspersonen aller Altersstufen. Dora und Beni können Mario dieses «Dorf» nicht bieten. Das Wort «Grossfamilie» kennen sie nur vom Hörensagen. Als Einzelkind hat Mario zu Hause nur seine Eltern und seine Spielsachen.

Eine gut geleitete Krippe mit Kindern verschiedener Altersstufen kann Ersatz für das fehlende Dorf, für die fehlende Grossfamilie, sein. Anregungen gibt es hier zuhauf. Und das Gruppenleben fördert die soziale Kompetenz der Kleinen: die Fähigkeit, auf andere zuzugehen, sich in einer Gruppe zu integrieren, Mitgefühl zu entwickeln und Konflikten zu begegnen.

Der Anfang, vor gut einem Jahr, war schwer. Mario machte ein Riesentheater. Maja, die Kleinkindbetreuerin, beruhigte Dora: Jedes Kind brauche seine Zeit, um die Umgebung und das Personal kennen zu lernen. Sie ermutigte Dora, in dieser Anfangsphase bei Mario in der Krippe zu bleiben.

Beständige Bezugspersonen

Dora und Beni beschlossen damals, dass Mario die Krippe bis zum Kindergarten nicht mehr wechseln würde. Sie erkannten die Bedeutung eines beständigen Umfeldes. Mario muss ebenso darauf zählen können, dass seine Betreuerin immer da ist, wie darauf, dass seine Eltern ihn immer abholen. So fühlt er sich geborgen und sicher und entwickelt Vertrauen in die Welt: Er lernt, dass ihm nahe stehende Menschen, auch wenn sie mal weg sind, immer wieder kommen.

Heute fühlt sich Mario in der Krippe pudelwohl. Dora und Beni hatten Glück. Denn eine Krippe ist immer nur so gut wie ihre Organisation und ihre Leiter. Maja ist wie eine zweite Mami für Mario. So kann Dora ihrer Arbeit nachgehen und hat viel mehr Energie für ihren Sohn. Die Gespräche mit Maja findet sie anregend und hilfreich. Dass diese Lösung für die Nachbarinnen nicht stimmt, ist deren Sache. Hauptsache ist, dass sie für Dora, Beni und Mario stimmt.

Gedanken zur Krippe