Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

15.1.2004

Jeder sein eigener Chef

Wie bringt man unselbständige Menschen zu selbständigem Handeln, ohne dass sie sich im Stich gelassen fühlen?

«Hilf mir bitte! Ich weiss nicht, was ich tun soll!», jammert Ingrid. Rahel seufzt. Wenn ihre Schwester doch nicht so unselbständig wäre! Rahel will endlich ihre Ruhe. Zugleich möchte sie ihre Schwester auch nicht im Stich lassen. Und darum greift sie ihr ständig unter die Arme.

Doch damit ist Ingrid auf die Dauer nicht geholfen. «Gib einem Menschen einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre ihn das Fischen, und du ernährst ihn lebenslang.» Dieses Sprichwort sollte sich Rahel hinter die Ohren schreiben. Je mehr sie für Ingrid macht, desto unselbständiger wird Ingrid, und je unselbständiger Ingrid ist, desto abhängiger wird sie von Rahel.

Als Erstes vom Sockel steigen

Rahel kann dieses Muster durchbrechen. Auch wenn das nicht ganz einfach ist. Denn dass es so weit gekommen ist, liegt auch an ihr. Jemandem zu helfen steigert das eigene Selbstwertgefühl, und die Schwäche der anderen lässt einen selbst stark erscheinen. Rahel muss in der Beziehung mit Ingrid also vom Sockel der alles könnenden Helferin und Retterin herabsteigen.

Als Faustregel gilt: Rahel darf für Ingrid keine Entscheidungen fällen, und sie darf ihr keine Aufgaben abnehmen – egal, wie ungeschickt sich Ingrid anstellt. Und wenn es um die konkrete Lösung eines Problems geht, sollte Ingrid mindestens drei Lösungsversuche starten, bevor Rahel ihr unter die Arme greifen darf. Wenn Rahel Ingrids Hilferufe zurückweist, sollte ihre Botschaft immer lauten: «Ich kann dir nicht helfen. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich dazu nicht im Stande bin.»

Ingrid wird das zunächst nicht akzeptieren. Sie wird jammern und flehen. Dann wird sie Rahel provozieren: «Du kannst schon, du willst einfach nicht!» Rahel muss konsequent bleiben und wie eine gesprungene Schallplatte wiederholen: «Ich kann dir nicht helfen. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich dazu nicht im Stande bin. Du kannst das besser als ich.»

Irgendwann wird Ingrid wütend abrauschen. Diese Wut ist gut. Denn in ihr steckt eine Menge Energie. Genau diese Energie wird Ingrid nun dazu einsetzen, sich selbst zu helfen. Und morgen wird sie Rahel triumphierend und vielleicht sogar ein bisschen herablassend berichten, wie sie das Problem ganz allein gelöst hat.

Richtig loben

Jetzt sollte es Rahel unterlassen, sich mit Sätzen wie «Siehst du – ich wusste ja, dass du es kannst!» wieder auf den Sockel der Besserwisserin zu stellen. Auch ein Lob im Stil von «Das hast du aber gut gemacht!» hat etwas Überhebliches. Was Ingrid viel mehr braucht, ist begeisterte Bewunderung: «Super, Ingrid! Wie hast du denn das geschafft?»

Diese Bewunderung ist für Ingrid so wichtig, weil sie wie alle unselbständigen Menschen unter einem tiefen Selbstwertgefühl leidet. Zudem hat sie Angst vor der Selbständigkeit, weil sie befürchtet, dann allein zu sein. «Abhängig sein» heisst für sie «geliebt sein». Sie muss lernen, dass sie auch als unabhängiger, selbständiger Mensch liebenswert ist.

Ingrids Weg zur Selbständigkeit wird von vielen schwesterlichen Konflikten begleitet sein. Doch am Ende profitieren beide davon: Ingrid, weil sie «das Fischen gelernt» und darüber hinaus einen Stolz entwickelt hat. Und Rahel, weil sie gelernt hat, ihren Stolz zu überwinden.

Tipps zur Ermunterung