Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

13.11.2003

Reden statt vermuten

Füreinander denken kann Gift sein in einer Beziehung. Abhilfe schafft nur eines: offen reden miteinander.

«Sie hat darauf keine Lust.» «Ich weiss, was er sich denkt.» «Das macht ihr Mühe.» «Ich muss das für ihn tun.» Wie oft ist der Beziehungsalltag von solchen Gedanken beherrscht. Da schieben sich zwei Menschen Absichten in die Schuhe, Gefühle in die Brust, Probleme in die Seele und Gedanken in den Kopf.

Und auf Grund dieses Scheinwissens, was im anderen vor sich geht, wird füreinander gehandelt und Verantwortung übernommen. Im Streit heisst es dann oft: «Du hast es so gewollt!», «Ich hab das nur dir zuliebe getan!» oder «Immer muss ich mich nach dir richten!» Und der Betroffene erwidert fassungslos: «Wie kommst du denn darauf?»

Gefilterte Wahrnehmung

Ja, wie eigentlich? Dank eines ausgeprägten Einfühlungsvermögens? Nein. Wer sich in andere versetzt, schaut sie wirklich an. Hier aber ist das Gegenteil der Fall. Hier wird gefiltert. Filtern ist eine ebenso lästige wie menschliche Eigenschaft, bei der ein Mensch den anderen durch einen Filter wahrnimmt, der nur das durchlässt, was seinen eigenen Wünschen oder Befürchtungen gerecht wird.

Mit anderen Worten: Er sieht im Gegenüber nur das, was er in ihm sehen will oder zu sehen erwartet. Er macht sich von ihm ein Bild, in das seine eigenen Gedanken und Gefühle mit einfliessen – kurz, in das er selbst mit einfliesst. Und dann verwechselt er seinen Partner mit diesem Bild. Automatisch verschwimmen bei dieser Sichtweise die Grenzen zwischen Du und Ich. Er meint, zu wissen, was im anderen vor sich geht. Meint, für ihn verantwortlich zu sein.

Je näher zwei Menschen einander stehen, desto grösser ist die Gefahr, dass sie so miteinander verschmelzen, dass sie sich ineinander verheddern. Dadurch verlieren sie sich selbst, werden voneinander abhängig. Das ist der Untergang: Eine Beziehung ist wie der gemeinsame Sprung ins Wasser. Wenn beide Partner die Arme zum Schwimmen freihaben, bleiben sie an der Oberfläche. Wenn sie sich aneinander klammern, sinken sie ab.

Die einzige Art, sich freizustrampeln, ist, miteinander zu kommunizieren. Je offener zwei Menschen miteinander reden, desto weniger Raum bleibt für Fragen, Vermutungen und Interpretationen. Desto kleiner die Gefahr, dass sie Bilder voneinander malen, in die sie ihre eigenen Vorstellungen fliessen lassen. Desto besser können sie diese Bilder, wenn sie doch einmal entstehen, korrigieren. Desto besser können sie zwischen Du und Ich abgrenzen.

Mut zu offenen Worten

Je früher in einer Beziehung offen geredet wird, desto weniger gewinnt die Filtersicht die Oberhand. Offene Worte brauchen Mut. Denn in ihnen liegt die Wahrheit. Die tut manchmal weh, doch auf die Dauer viel weniger als die Lüge, die Illusion, die eine Beziehung zum Ersticken bringen kann, weil sie ihr keinen Platz für echte Worte und echte Menschen lässt.

Bei der Kommunikation in der Partnerschaft ist Klarheit das höchste Ziel: Der eine redet so klar wie möglich, der andere fragt zurück, bis er ihn versteht. Sich richtig ausdrücken ist nicht leicht. Doch ein falsch formulierter Satz ist keine Tragödie. Tragisch ist nur, wenn nichts gesagt wird. Was ein Mensch einmal gesagt hat, kann er korrigieren. Was er aber nicht kommuniziert, das regiert über seine Partnerschaft und über sein Leben.

Tipps gegen das Verschmelzen