Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
30.10.2003 4
Nach einem Wochenende beim Vater können brave Kinder zu richtigen Rabauken werden. Bleiben Sie ruhig, aber bestimmt.
Eigentlich ist der kleine Tim ein Goldschatz. Doch nach einem Wochenende bei seinem Vater Andi mutiert er in einen kleinen Drachen. Er ist aggressiv, er ist unkooperativ ... sämtliche Erziehungserfolge seiner Mutter Kim scheinen hinfällig.
Tims Eltern leben getrennt und kommen nicht besonders gut miteinander aus. Das Hauptgewicht der Erziehung lastet auf Kim. Sie zieht klare Grenzen und setzt ihre Linie durch. Andi ist nachgiebiger. Er verwöhnt seinen Sohn. Er will Tim schliesslich gefallen – umso mehr, da er ein schlechtes Gewissen hat, weil er kaum für ihn da ist. Tim spürt das und hat sich zum Meister der Manipulation entwickelt. Er «beherrscht» seinen Vater wie ein Virtuose sein Instrument. Klar, dass er sich da auf jedes Wochenende mit Papi freut, und klar, dass am Montag jeweils Krise angesagt ist.
Eine Trennung verunsichert
Doch da spielt noch etwas anderes mit: Die Trennung der Eltern ist für ein Kind enorm verunsichernd. Die Tatsache, dass hier zwei Menschen einander abweisen und verlassen, lehrt das Kind, dass auch es abgewiesen und verlassen werden kann. Das macht Angst.
Jedes Wochenende erlebt Tim eine kleine Trennung von seiner Mutter und eine kleine Trennung von seinem Vater und wird aufs Neue mit seiner Angst konfrontiert: Wird er einmal ganz verlassen werden? Kim als seine Hauptbezugsperson bekommt diese Angst am meisten zu spüren, dieses Misstrauen, das umso stärker ist, weil sie ihm gegenüber strenger als Papi ist, also nicht so «nett».
Jeden Montag unterzieht Tim seine Mutter darum einem Liebestest: Sein ungezogenes Verhalten widerspiegelt seine ängstliche Suche nach den Grenzen ihrer Liebe. Wie weit kann er gehen, bis sie ihn zurückweist? Liebt sie ihn wirklich uneingeschränkt?
Wie kann Kim damit umgehen? Sie sollte Tims Montagsverhalten unter den gegebenen Umständen als normal ansehen und die Situation akzeptieren. Drastische Kontrollversuche und Wutausbrüche sollte sie vermeiden, denn diese bestätigen Tim, dass Mami ihn nicht uneingeschränkt liebt. Umgekehrt darf sie aber auch nicht klein beigeben, denn dann lernt Tim, auch sie zu manipulieren.
Der Liebestest
Kims Strategie sollte vielmehr sein, ruhig zu bleiben und ihre Linie beharrlich und geduldig durchzuziehen. So besteht sie den Liebestest: Tim bekommt allmählich wieder ein Gefühl von Sicherheit und wird sich langsam beruhigen. Sein Mami ist ein Anker in den wilden Wogen, denen seine Kinderseele unterworfen ist.
Egal, welcher Konflikt zwischen Kim und Andi schwelt, ihr Sohn sollte so wenig wie möglich davon mitbekommen. Wenn er spürt, dass hier zwei Menschen gegeneinander sind, fühlt er sich bedroht, schuldig und verunsichert; wenn nicht, entwickelt er auch mit zwei getrennt lebenden Eltern ein Gefühl der Geborgenheit.
In ihrer Situation muss Kim viel Geduld, Stärke und emotionale Grösse aufweisen. Das wird mal besser, mal weniger gut klappen. Immer aber werden ihr zwei Dinge helfen. Erstens die Gewissheit, dass sie damit ihrem Sohn einen grossen Dienst erweist und sich selbst auf die Dauer viel Ärger erspart. Zweitens das Wissen, dass ihr Kind sich nicht schlecht benimmt, um sie zu ärgern, sondern aus Angst, sie zu verlieren. Weil es sie liebt.