Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

14.8.2003 3

Das wilde Tier in uns

Die meisten Menschen haben Mühe mit Aggressionen. Weil sie nicht gelernt haben, konstruktiv mit ihnen umzugehen.

Alle Menschen haben Aggressionen. Und viele haben Mühe damit. Weil ihnen beigebracht wurde, dass Aggression schlecht ist. Weil sie Angst vor dieser rohen, «gefährlichen» Energie haben. Doch der Aggressionstrieb ist lebenswichtig: Er befähigt den Menschen dazu, seine Angst zu überwinden und zu kämpfen.

Das Wort stammt vom Lateinischen «aggredi», übersetzt «herangehen». Aggression beschreibt also eine Bewegung auf etwas hin. Der Mensch scheut sich vor dieser Bewegung: Wer sich bewegt, kann das Falsche tun, unangenehme Reaktionen auslösen. Manch einer unterdrückt seine Aggression daher lieber. Dieser Kraft raubende Akt ist der Grund für die Energielosigkeit vieler depressiver Menschen; oft sind dabei auch Suchtmittel im Spiel.

Beschimpfen, niedermachen

Auf Nummer sicher geht, wer seine Aggression gegen Gegenstände oder wehrlose Menschen richtet: Anstatt die missliche Arbeitssituation zu ändern, schreit man den Computer an. Die Eheprobleme werden verdrängt, dafür schimpft man mit dem Kind. Oder man gibt den Ausländern die Schuld an den Finanzproblemen. Oft wendet sich die Aggressionsenergie auch gegen die eigene Person; das drückt sich in selbstzerstörerischem Verhalten, Gemütsverstimmungen, Süchten und Krankheiten aus.

Und auch wenn man das richtige Ziel «trifft», ist der Tonfall oft der falsche. Der Empfänger wird beschuldigt, beschimpft, niedergemacht. Die Aggressionsenergie wird gegen ihn eingesetzt, nicht zur Lösung des Problems. Dahinter steckt die Angst vor dem «Gegner», davor, dass er es schlecht mit einem meint. Je grösser die Angst, desto schärfer die Geschosse: Man versucht, den Gegner niederzumachen.

Ist das sinnvoll? Höchstens, wenn man in Lebensgefahr ist. Sonst ist es weiser, sich den Gegner zum Freund zu machen. Indem man mutig Konflikte anspricht und Lösungen sucht. Die Energie, die man dafür braucht, ist die gleiche, die beim Gegeneinanderkämpfen verpulvert wird. Nicht in ihrer rohen, primitiven Form, sondern kultiviert und raffiniert: Die Aggression ist wie ein wildes Tier, das, in einen Käfig eingepfercht, zerstörerisch vor sich hinwütet. Lässt man es aber hinaus, nähert sich ihm, trainiert und pflegt es, dann kann es nützliche Dienste erweisen.

Mut zur Veränderung

So sieht eine gute Beziehung mit dem Tier Aggression aus: Man findet heraus, wann, wieso und gegen wen man Aggressionen hat und wie man mit ihnen umgeht. Man arbeitet konstruktive Alternativen zu zerstörerischen Verhaltensweisen heraus und lernt Konflikt- und Gesprächstechniken. Schliesslich baut man ein Repertoire an Aktivitäten auf – Spaziergänge, Holzhacken, Hantelstemmen –, bei denen die Energie frei fliessen kann.

Das Tier Aggression braucht viel Auslauf, und die Arbeit mit ihm dauert ein Leben lang. Doch der Aufwand lohnt sich. Der Aggressionstrieb steckt nicht nur hinter Wut und Hass, sondern hat auch mit Selbstbehauptung und dem Mut zur Veränderung zu tun. Die Aggression kann ein schönes Tier sein. Wenn es die richtige Pflege bekommt.

Lernen Sie Ihre Wut kennen