Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

7.8.2003 2

Süchtig nach Ablehnung

Warum gibt es Menschen, die an ihren Partnern hängen, obwohl sie von ihnen zu wenig Liebe bekommen?

Agnes kommt einfach nicht von Willy los. Warum bleibt sie nur an diesem Mann hängen, obwohl sie unter seiner Gefühlskälte und Lieblosigkeit so leidet? An dem sie nur der Traum von besseren Zeiten hält? Und die Illusion, dass er sie auf seine Art schon liebt und dass er es eines Tages schaffen wird, ihr diese Liebe auch zu zeigen?

Die Sehnsucht nach mehr Liebe ist Agnes so vertraut wie das Gefühl, zu kurz zu kommen. Schon die Beziehung, die sie als Kind zu ihren Eltern hatte, war davon geprägt: Der Vater war verschlossen und abweisend, die Mutter depressiv verstimmt. Das Klima zu Hause war kühl. «Zuwendung», so lernte Agnes, «ist etwas, was ich nur tröpfchenweise bekomme.» Und weil ein Kind die Regeln seines Elternhauses unbewusst als die einzige Wahrheit anerkennt, lernte sie weiter: «So ist es richtig. Ich habe nicht mehr Liebe verdient.»

Schwierige Ablösung

Natürlich hat Agnes mehr verdient. Sie hat einfach zu wenig bekommen. Unter diesen Voraussetzungen ist es äusserst schwierig, sich von den Eltern abzulösen. Denn Ablösung verlangt Gefühle von Überdruss. Bei Agnes aber herrschte Mangel. Heute scheint Agnes von ihren Eltern abgenabelt: Sie lässt sich kaum bei ihnen blicken. Trotzdem ist sie über ihre unerfüllte Sehnsucht wie mit unsichtbaren Ketten an sie gebunden. Es ist diese Sehnsucht, es sind die damit verbundenen schmerzhaften Gefühle, denen Agnes unbewusst ausweicht, wenn sie den Kontakt mit den Eltern scheut.

Die nie vollzogene Ablösung von den Eltern spielt entscheidend in Agnes' Beziehung mit Willy hinein. Ohne dass sie sich dessen bewusst wäre, hat sie sich einen Mann ausgesucht, dessen Charakter die Atmosphäre ihres Elternhauses wieder aufleben lässt. Willy spielt sozusagen die Rolle der Eltern, insbesondere des Vaters. Und wenn Agnes sich nach mehr Zuwendung von Willy sehnt, versteckt sich dahinter die Sehnsucht der kleinen Agnes, endlich genug Liebe zu bekommen und einen liebevollen Vater zu haben.

Zurück zu den Wurzeln

Würde sie ein Mann jedoch tatsächlich liebevoll behandeln, dann wäre Agnes wahrscheinlich überfordert. Sie würde eventuell sogar Reissaus nehmen. Denn da würde ihr Weltbild ja nicht mehr stimmen, gemäss dem Liebe etwas ist, von dem sie nicht genug bekommt, bekommen darf. Agnes sehnt sich also einerseits nach mehr, andererseits gönnt sie sich nicht mehr. Dieser Widerspruch wird Agnes' Beziehungen so lang beherrschen, bis sie ihn versteht. Das heisst, bis sie ihn zu seinen Wurzeln zurückverfolgt und dort ansetzt, wo es am unangenehmsten ist: in ihrem Elternhaus.

Mit anderen Worten: Um nicht in der Gegenwart hängen zu bleiben, muss sich Agnes mit sich selbst auseinander setzen. Da wird Wut und Trauer aufkommen. Doch diese schmerzvollen Anteile der Liebe muss sie zulassen, wenn sie auch die schönen Anteile geniessen will, wenn sie Liebe in ihrer Erfüllung und nicht nur als unerfüllte Sehnsucht erleben will. Und dann wird auch sie den Schritt zu dem Mann wagen, der ihr die Liebe gibt, die sie verdient.

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