Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

31.7.2003 1

Raus aus alten Rollen

Wer als Erwachsener immer noch in seiner alten Rolle des Problemkindes steckt, muss kritisch über die Bücher.

Tom leidet. Gesundheitlich und seelisch geht es ihm ständig schlecht. Seit dem Tod der Mutter ist die jüngere Schwester Josi seine wichtigste Bezugsperson. Josi hat immer ein offenes Ohr für ihn. Doch eines Tages explodiert sie: «Hör endlich auf zu jammern! Schon als Kind hast du dich immer aufgespielt! Dauernd bekamst du Spezialbehandlung!»

Tom ist vor den Kopf gestossen. Er erzählt die Episode seinem Therapeuten Dr. Schmid. «Bekamen Sie als Kind wirklich Spezialbehandlung?», fragt der Arzt. Tom überlegt: «Ich hatte halt viel Bauchweh. Und Schulprobleme. Da musste sich meine Mutter um mich kümmern, obwohl sie kaum Zeit hatte.» «Und Josi?» «Die war der Sonnenschein in der Familie. Völlig unkompliziert.»

Unbewusste Taktik

«Wissen Sie», sagt Dr. Schmid, «Kinder wenden unbewusst Taktiken an, um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern zu bekommen. Besonders, wenn diese wenig Zeit haben. Mir scheint, als ob Klein Josis Taktik das Strahlen war, die des kleinen Tom das Weinen.» «Da ist was dran», meint Tom nachdenklich. «Wenn es mir schlecht ging, kümmerte man sich um mich. Ich war das Problemkind. Das gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Die Idee, «normal» zu sein, beängstigte mich. Denn da würde man sich nicht mehr um mich kümmern.»

Er überlegt kurz: «Aber eigentlich habe ich meine Mutter überfordert. Sie war oft sehr ungehalten mit mir.» «Die Rechnung ist für Sie trotzdem aufgegangen.» «Wieso?» «Jede Art von Aufmerksamkeit, auch negative, ist einem Kind lieber als keine.» Tom schweigt betroffen. Dr. Schmid fährt fort: «Oft rutscht ein Familienmitglied in die Rolle des Sorgenkindes, dessen Probleme im Zentrum stehen. Dadurch können die anderen Mitglieder ihre Probleme verdrängen. Gegenüber dem «schwachen» Mitglied erscheinen sie stark.»

Tom geht ein Licht auf: «Ich stecke heute noch in dieser Rolle! Ich fühle mich bis heute unzulänglich! Ich wollte, ich hätte das nicht mehr!» Dr. Schmid nickt: «Sie halten sich mit allerlei Leiden klein und hilflos, um der alten Problemkind-Rolle treu zu sein, die Ihnen die Aufmerksamkeit der Mutter und einen festen Platz in der Familie gab. Jetzt, wo Sie das verstehen, können Sie es auch überwinden!»

Selbst bestimmen

Dr. Schmid fährt weiter: «Wissen Sie, wer sich hinter diesem Problemkind, hinter all Ihren Leiden versteckt?» Tom zieht eine Grimasse: «Ein Langweiler.» «Nein. Ein ganz normaler Mensch. Genau das, wovor Sie Angst haben. Weil damals in Ihrer Familie niemand Zeit und Interesse für den hatte. Heute haben das die Menschen schon. Die Regeln Ihrer Familie gelten nicht mehr.»

«Heute dürfen Sie normal sein und selbst bestimmen, wos lang geht. Zurück hält Sie nur die Sehnsucht des kleinen Tom, der nie bekam, was er wirklich brauchte: bedingungslose Liebe. Aber Sie, der erwachsene Mensch, können diese Liebe kriegen. Normal, wie Sie sind. Normal ist nicht schlecht oder langweilig. Normal ist menschlich.»

«Normal», murmelt Tom. Wie herausfordernd das klingt. Ob er sich von der Rolle des Problemkindes verabschieden soll? Der Gedanke erfüllt ihn mit Neugier, und gleichzeitig mit Trauer: Der kleine Tom trauert der einstigen Sonderbehandlung nach. Der erwachsene Tom aber hat Lust auf echtes Leben und echte Liebe.

Tipps für «Problemkinder»