Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
10.7.2003 8
Menschen mit einem ausgeprägten Helferinstinkt benötigen ihre Schützlinge dringender als umgekehrt.
Silvia sorgt dafür, dass ihr drogenabhängiger Freund Mark immer ein Dach über dem Kopf hat. Alf bekocht täglich seine 25-jährige magersüchtige Tochter Nina. Gerti umsorgt rührend ihren von nervösem Bauchweh geplagten Mann Heinz. Kein Zweifel: Silvia, Alf und Gerti haben einen ausgeprägten Helferinstinkt, ohne den Mark völlig verwahrlosen, Nina gar nichts mehr essen und Heinz im Krankenheim liegen würde. Das befürchten zumindest ihre Wohltäter. Sie sehen sich in der Rolle des Retters. «Ohne mich ist der andere verloren», sagen sie sich, «ich werde gebraucht».
Nur Stärke zählt
Nur so bekommt ihr Leben einen Sinn. Silvia, Alf und Gerti haben als Kinder gelernt, dass sie nur dann etwas wert sind, wenn sie sich stark und selbstlos zeigen und sich um ihre Familienangehörigen kümmern. Nur so wurden sie bemerkt und geliebt. Mit der Zeit bauten sie ihre gesamte Identität darauf auf, gebraucht zu werden. «Ich bin stark und liebenswert, weil du schwach bist und ich für dich da bin», lautet ihr Leitspruch.
Da sie sich selbst keine Schwächen, Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle leisten können, stossen sie sie von sich und projizieren sie auf die Schützlinge: Sie lassen ihre eigenen schwachen Anteile durch die Schützlinge leben. Die Retter brauchen ihre Schützlinge also mindestens so sehr, wie diese sie brauchen. Ja, brauchen die Schützlinge sie überhaupt? Sie zeigen nicht gerade, dass sie dankbar sind: Mark stiehlt Silvia Geld aus der Tasche, Nina erbricht sich nach jedem Besuch ihres Vaters, und Heinz tyrannisiert Gerti wie ein verwöhntes Kind.
Silvia, Alf und Gerti haben also allen Grund, sich gehörig über ihre Schützlinge zu ärgern und zu grämen. Aber auch das brauchen sie im Prinzip. Sie haben dadurch nämlich keine Zeit, an sich selbst zu denken. Insgeheim machen sie einen Riesenbogen um sich selbst. Denn tief in ihnen schreit das Kind, das damals zu kurz gekommen ist, sich nie anlehnen und schwach sein durfte, als Kind nie anerkannt worden ist. Das sind überwältigende Gefühle von Groll und Trauer, die niemand gern an sich herankommen lässt.
Zu kurz gekommen
Doch wer sich diesen Gefühlen nicht annähert, wird ein Leben lang zu kurz kommen. Angenommen, Silvia, Alf und Gerti kommen zu dieser Einsicht und entscheiden, dass sie mehr verdient haben. Sie beginnen, sich um sich selbst zu kümmern. Sie lernen den hilfsbedürftigen Schützling in sich selbst kennen und lieben. Und sie sehen, dass ihnen dieser Schützling wirklich dankbar ist. Irgendwann schliesslich finden sie zu einem neuen Leitspruch: «Ich bin stark und schwach und liebenswert und für mich selbst da».
Damit gelingt es ihnen auch besser, ihre alten Schützlinge loszulassen und ihnen die Kontrolle und Verantwortung über ihr Leben zu übergeben. Das ist für diese natürlich anstrengend, und darum sträuben sich Mark, Nina und Heinz erst mal gehörig. Aber niemand kann ihre Probleme für sie lösen, sie müssen ihren Weg selbst gehen. Sie brauchen keinen Retter, der sich um sie kümmert, sie brauchen jemanden, der ihnen etwas zutraut und an sie glaubt. Weil er sie liebt.