Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

3.7.2003 7

Wieder eigenständig

Was tun, wenn ein Mensch realisiert, dass er seinem Partner hörig ist, der ihn noch dazu laufend kritisiert?

Erna weiss nicht mehr genau, wann es begann. Irgendwann im ersten Jahr ihrer Ehe fing Paul an, sie zur Schnecke zu machen. Nichts, was sie tat, war richtig. Je mehr sie ihm zu gefallen versuchte, desto mehr hackte er auf ihr herum. Erna, deren Selbstwertgefühl von jeher nicht besonders hoch war, wurde immer unsicherer. Es war ihr peinlich, Bekannte und Verwandte zu treffen, denn sie hatte Angst, dass diese dahinter kommen könnten, welch schlechte Ehefrau sie war. Zudem sah es Paul nicht gern, wenn sie sich mit Leuten traf.

Nach und nach gab Erna alle Kontakte auf. Schliesslich hatte sie nur noch Paul, und sie wurde ihm hörig. Sie hatte Angst, dass er sie verlassen könnte. Wer sonst würde sie, wertlos wie sie war, wollen?

Hilfe annehmen

Nur ihre Tochter Nora bekam etwas von dieser Not mit. Zu Ernas 50. Geburtstag drückte sie ihr einen Zettel in die Hand. Darauf stand eine Telefonnummer. «Die schenk ich dir», sagte sie, «das ist eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die unter ihren Partnern leiden. Die Gruppe trifft sich montags um sechs.» Nora sah Ernas Skepsis: «Papi arbeitet montags bis neun». Erna seufzte: «Also gut, dir zuliebe».

Bei ihrem ersten Gruppenbesuch erschrak Erna. Da redeten sechs Frauen und ein Mann darüber, wie sie von ihren Partnern ausgenutzt und manipuliert, ja manchmal sogar geschlagen wurden. Diese Menschen wurden missbraucht – ihre eigene Ehe hingegen war doch völlig normal! Doch je länger sie sich die Geschichten anhörte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass das Muster dahinter das gleiche war wie bei ihr: In jeder Geschichte setzte ein Mensch alles daran, das Selbstvertrauen und die Eigenständigkeit eines anderen wegzunehmen, um ihn zu beherrschen.

Erna ging mit gemischten Gefühlen nach Hause: Sie fühlte sich der Illusion beraubt, dass ihre Ehe schon irgendwie in Ordnung war. Andererseits empfand sie seit Jahren zum ersten Mal so etwas wie Geborgenheit: Anderen ging es so wie ihr!

Erna besucht die Gruppe seit fünf Jahren. Jeden Montag werden Tipps, Adressen, Buchtitel, Sorgengeschichten und Erfolgsberichte ausgetauscht. Erna schöpft enorme Kraft aus dem Wissen, dass sie eine von vielen ist.

Das Weltbild geradebiegen

Dank der aufbauenden Unterstützung der anderen Teilnehmer ist es ihr gelungen, das Weltbild, das durch Pauls Bearbeitung völlig verzerrt worden ist, wieder geradezubiegen: Nicht sie ist schlecht, ihre Ehe ist schlecht. Sie schämt sich nicht mehr; sie spielt niemandem mehr eine heile Welt vor. Sie und Paul sind in ein unschönes Beziehungsmuster gerutscht. Sie verdient, wie jeder Mensch, Besseres. Sie sieht sich nicht als Opfer, sondern als Frau, die kämpft, ihren Weg zu finden. Es steht in ihrer Macht, ihre Situation zu ändern.

Das heisst nicht, dass die Beziehung mit Paul besser wird. Er versucht, ihre Emanzipation mit Drohungen zu unterbinden. Doch Erna lässt sich von ihm je länger, je weniger gefallen. Im Gegenteil: Er schürt damit ihre Unabhängigkeitsgelüste. Vielleicht wird sie bald den Schritt wagen, den Mann, den sie eigentlich liebt, sich selbst zuliebe zu verlassen.

Denn sie weiss, dass sie sich nie mehr so allein fühlen wird wie damals, als sie unter Pauls Einfluss die Beziehung zu sich selbst aufgab.

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