Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie
26.6.2003
Wie gehen Mutter und Sohn damit um, wenn kein Vater da ist, der das männliche Vorbild darstellt?
Wenn der siebenjährige Adi seine Mutter Elke über seinen Vater Mike ausfragen will, bekommt er nur ausweichende Antworten. In Elkes Augen ist Mike ein mieser Taugenichts. Kurz nach Adis Geburt hat er sich einfach aus dem Staub gemacht. Eins ist ihr klar: Ihr Adi wird einmal ganz anders. Doch in letzter Zeit hat sie Mühe mit ihm. Er ist zappelig und aggressiv. Und sie macht sich Vorwürfe, dass er ohne Vater aufwächst.
Wächst Adi tatsächlich vaterlos auf? Ja und nein: «Die fehlenden Väter spielen oft eine grosse Rolle», so die Psychologin und Bestsellerautorin Jirina Prekop. Eine Familie ist wie ein komplexes System, dessen Bausteine, nämlich die Familienmitglieder, feste Plätze und Rollen einnehmen. Wenn ein Mitglied die Familie verlässt, gerät das System ins Wanken. Zur Wiederherstellung der Ordnung übernehmen oft andere Mitglieder die Rolle des Abwesenden.
Ein Streit stört das Verhältnis
Auch Mike hat ein Loch hinterlassen. Adi und Elke spüren dieses Loch, und auf ihrer Beziehung lastet der nie beendete Streit zwischen den Eltern. Ganz allmählich rutscht Adi in die Rolle von Elkes abwesendem Gegenspieler. In der Suche nach dem väterlichen Vorbild identifiziert er sich mit Mike – besser gesagt mit dem Bild von ihm, das ihm Elke vermittelt. Und das ist kein schönes Bild. Kein Wunder, dass Adi derzeit ein schwieriges Kind ist.
Mit Adi als Vertreter von Mike herrscht wieder eine gewisse Ordnung in der Familie. Doch einer kommt dabei zu kurz: Adi, das Kind. Dieses Kind ist zutiefst verunsichert. Denn in seiner Identifikation mit Mike fühlt sich Adi von Elke abgewiesen.
Das problematische Rollenspiel zwischen Elke und Adi läuft unbewusst ab. Wenn Elke die Beziehung aus kritischer Distanz – vielleicht mit Hilfe eines Therapeuten – betrachtet, lernt sie, das Spiel zu durchschauen und dagegen anzukämpfen. Dies gelingt ihr besser, wenn sie sich bei Adis Erziehung von Freunden, Verwandten und Fachpersonen unterstützen lässt. Diese neuen «Bausteine» im Familiensystem entlasten sowohl Elke als auch Adi in ihren Rollen und dienen Adi als positive Vorbilder und Identifikationsfiguren.
Den Vater positiv darstellen
Doch auf seiner Identitätssuche wird sich Adi immer auch mit seinem Vater identifizieren. Darum sollte Elke versuchen, ihm ein gutes Bild von Mike zu vermitteln. Dabei hilft es ihr, die Beziehung zu Mike aufzuarbeiten und sich zumindest mit dem Teil von ihm zu versöhnen, der für Adi wichtig ist: mit Mike als Adis Erzeuger. Diese eine gute Tat hat er vollbracht. Warum soll Adi erfahren, was für ein «mieser Taugenichts» er darüber hinaus noch ist? Für die Entwicklung des Kindes ist das nur schädlich.
Wenn Elke Adi gegenüber einen versöhnlicheren Umgang mit dem Thema «Mike» an den Tag legt, erhält Adi ein besseres Vaterbild und muss nicht für seinen Vater einstehen. Zudem fühlt er sich geborgener, wenn zu Hause nicht Verbitterung und Hass herrschen, sondern Akzeptanz, Toleranz und Liebe. Wenn er spürt, dass Elke Mikes Anteile in ihm akzeptiert. Eins ist klar: Adi wird nie «ganz anders» als Mike werden. Denn Mike ist und bleibt sein leiblicher Vater.