Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

12.6.2003 4

Stachelige Schönheit

Die Rose symbolisiert die Weiblichkeit. Und ihre Dornen schützen vor ungestümen Verehrern.

Seit Jahrtausenden steht die Rose in den verschiedensten Kulturen für das weibliche Geschlecht. Beim Anblick der sinnlichen Rosenblüte erstaunt diese Assoziation kaum. Zudem ist die Rosenessenz ein bewährtes Mittel bei Menstruations-, Schwangerschafts-, Wochenbett- und Klimakteriumsbeschwerden – kurz: Es gibt kaum ein Frauenleiden, das durch die Rose nicht gelindert wird. Und dann hilft sie auch noch bei sexueller Unlust ...

Goethe verehrte Rosen

Was die Rose als Symbol für das weibliche Geschlecht besonders interessant macht, ist, dass sie Dornen hat. In seinem Gedicht vom Heideröslein schrieb der damals 22-jährige Johann Wolfgang von Goethe: «Knabe sprach: Ich breche dich, Röslein auf der Heiden! Röslein sprach: Ich steche dich, dass du ewig denkst an mich, und ich will's nicht leiden.» Ohne Dornen wäre die zarte Rose ihrem ungestümen Verehrer hilflos ausgesetzt. Der Dorn, so besagt ein chinesisches Sprichwort, «verteidigt die Rose und verletzt diejenigen, die die Blüte rauben wollen».

Wunderschön wird dies im Märchen vom Dornröschen dargestellt. Als sich Dornröschen als Teenager mit einer Spinnnadel sticht, fällt sie in einen tiefen Schlaf. Da liegt sie nun in all ihrer sinnlichen Schönheit, in ihrem von duftenden Rosen umrankten Turm, und zieht zahlreiche Verehrer an. Sie versuchen sich durchzukämpfen und scheitern an den Dornen. Erst nach hundert Jahren gelingt es einem Prinzen, zu Dornröschen vorzudringen und das Mädchen wachzuküssen.

Dornröschen ist ein Märchen über die sexuelle Reifung der Frau. Der Stich mit der Spinnnadel wird oft als das Eintreten der Geschlechtsreife gedeutet: Dornröschen wird für Männer begehrenswert, ist aber seelisch noch ein Kind. Sie zieht sich in den Dornröschenschlaf zurück, wo sie seelisch zur Frau heranreift und unterdessen sämtlichen Verehrern mit ihren Dornen den Todesstoss versetzt. Nur einem ist sie, nach langer Zeit, bereit, sich zu öffnen. Er ist der Richtige, weil er den richtigen Zugang gefunden hat. Zum richtigen Zeitpunkt.

Die Rose symbolisiert einerseits die einladende und gleichzeitig so verletzliche Sinnlichkeit der Frau. Andererseits aber auch ihre resolute Abwehr, wenn sie diese verteidigen muss. Um die Blüte nicht zu zerstören und um nicht zurückgestossen zu werden, muss man sie mit Feingefühl anfassen. Man muss ihre Bedürfnisse respektieren.

Grenzen respektieren

Leider werden die Grenzen allzu oft überschritten. Etwa in Goethes Gedicht vom Heideröslein: «Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, half ihm doch kein Weh und Ach, musst es eben leiden.» 42 Jahre später schrieb der Dichter seiner Frau ein Blumengedicht mit dem Titel «Gefunden», darin heisst es: «Ich wollt es brechen, da sagt' es fein: Soll ich zum Welken gebrochen sein?» Worauf er es sorgsam ausgräbt, bei sich wieder einpflanzt und hegt und pflegt: «Nun zweigt es immer und blüht so fort.» Auch Goethe hatte eine Reifung durchgemacht – seine Partnerin dankte es ihm sicher.

Auch Sie sind eine Rose