Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

Schwächen und Süchte

Der Körper: Spiegel der Seele

Wenn Frauen an ihrer Figur herummäkeln, geht es nicht um Problemzonen. Sondern um Konflikte mit sich selber.

Pia steht nackt vor dem Spiegel. In der Hand hält sie einen Zettel, auf dem alle Körperpartien aufgelistet sind. Diese benotet sie von 1 bis 6: Ihre Augen bekommen eine 5, ihr Busen eine 4, ihre Oberschenkel eine 3. Am schlechtesten, nämlich mit einer 2, schneidet ihr Bauch ab. Das ist ein Fortschritt: Bis jetzt bekam er immer eine 1. Pia benotet ihren Körper jede Woche. Den Partien mit ungenügender Note schenkt sie besondere Aufmerksamkeit: Täglich legt sie sich für ein Weilchen hin, atmet tief durch, konzentriert sich auf diese Problemzonen, legt ihre Hände darauf und spricht mit ihnen.

Falsches Frauenbild

Dieses Ritual hilft Pia dabei, sich mit ihrem Körper anzufreunden. Früher hasste sie ihn. Sie fand ihn potthässlich und zu dick. Warum konnte er nicht straff und muskulös sein? Warum beherrschten ihn Cellulite und Fett? Sie fand Frauenkörper ganz allgemein nicht sonderlich schön. Schon als Mädchen sah sie ihre Mutter nicht gern nackt; sie wollte nicht so aussehen – und sie wollte auch nie so werden: eine unzufriedene Haus – und Ehefrau, die ihre Rolle erfüllte, weil sie eben musste. Es schien Pia, dass ihre Mutter gefangen war, aber nicht ausbrechen konnte. Weil sie eben nur eine Frau war.

Nur eine Frau. Erst im Verlauf einer längeren Therapie fiel Pia auf, wie tief dieses Gefühl der Zweitrangigkeit in ihr verankert war. Und wie sehr es von der Gesellschaft unterstützt wird: Immer noch gelten «männliche» Qualitäten wie Konkurrenzdenken und Rationalität mehr als «weibliche» Qualitäten wie soziales Denken und Emotionalität.

Das von den Medien verbreitete Idealbild der Frau mit athletischem, superschlankem Körper widerspiegelt die Verneinung der weiblichen, weichen Qualitäten. Pia, die durch die eigene Mutter ein negatives Frauenbild vermittelt bekam, war für dieses «antiweibliche» Ideal weit empfänglicher als eine Frau, die als Mädchen ein positives Verhältnis zur Weiblichkeit entwickeln konnte.

Dazu kommt, dass Pia als Kind ständig kritisiert und mit anderen, «perfekten» Kindern verglichen wurde. Diese missbilligend-kritische Haltung ihrer Person gegenüber hat Pia übernommen und auf ihren Körper projiziert. Ihm gab sie die Schuld dafür, dass sie sich zweitklassig und nicht gut genug fühlte – als Frau und als Mensch.

Von Grund auf umdenken

In der Therapie merkte Pia, dass nicht ihr vermeintlich unzulänglicher Körper das Problem war, sondern ihr Mangel an Selbstliebe. Jetzt lernt sie, sich selbst zu lieben. Sie setzt sich mit ihrer Geschichte auseinander, mit dem Mädchen, dessen Identität vor langer Zeit durch fremde Vorbilder und Ideale zugebaut wurde. Sie gräbt diese Identität wieder aus.

Die täglichen «Körperreisen» helfen ihr dabei: Ihr Körper ist der Spiegel ihrer Seele. Sie hat ihn lang verstossen. Jetzt wendet sie sich ihm zu wie einem Findelkind und lässt ihn sprechen. Langsam lernt sie ihn kennen als das, was er ist: unvollkommen, aber liebenswert. Wie sie selbst war – als Mädchen früher und als Frau und Mensch heute.

Den Körper lieben lernen

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