Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

30.4.2003

Auf Spurensuche

Je mehr eine Frau über die Geschichte ihrer Mutter weiss, desto besser kommt sie mit sich selbst ins Reine.

Kaum eine Beziehung im Leben einer Frau ist so kompliziert und problematisch wie die zu ihrer Mutter. Sie gleicht einer Slalomfahrt zwischen Abhängigkeit und Ablösung, Anpassung und Rebellion, Idealisierung und Verachtung, Anschuldigung und Versöhnung. Mutter und Tochter weisen einander Rollen zu, aber in erster Linie sind sie Menschen. Das führt zu Konflikten, denn die Anforderungen an die Rollenspielerinnen reiben sich oft schmerzlich an den Bedürfnissen, die sie als Menschen haben.

Manche Tochter möchte am liebsten von ihrer Mutter nichts mehr wissen. Doch da das auf die Dauer nicht möglich ist, bleibt ihr nur eins: das Beste aus der Beziehung zu machen. Das geht, indem sie sich vom Idealbild verabschiedet und sich dem Menschen, der ihre Mutter tatsächlich ist, annähert. Indem sie sich fragt: «Wer ist meine Mutter?»

Eine Kettenreaktion

Diese Frage ist ebenso kreativ wie die Frage «Wer bin ich?», mit der sie direkt verknüpft ist. Denn je besser eine Frau ihre Mutter kennt, desto besser versteht sie die Beziehung zu ihr. Und desto besser gelingt es ihr, für ihre Mutter Verständnis zu entwickeln – und letztlich auch für sich selbst.

Die folgenden Tipps helfen Frauen, die ihre Mutter besser kennen lernen wollen – auch dann, wenn mit der Mutter kein offenes, ehrliches Gespräch (mehr) möglich ist:

  1. Erzählen Sie einer Freundin, wie Sie Ihre Mutter in jedem Jahrzehnt Ihres Lebens erlebt haben.
  2. Versetzen Sie sich in Ihre Mutter und erzählen Sie, wie Ihre Mutter Sie erlebt hat. Worin unterscheiden sich die Sichtweisen?
  3. Erzählen Sie Ihrer Freundin, welche Rollen Sie und Ihre Mutter füreinander spiel(t)en, was Ihre Mutter von der idealen Mutter unterscheidet und was Sie aus der Sicht Ihrer Mutter von der idealen Tochter unterscheidet.
  4. Arbeiten Sie die Unterschiede zwischen Ihren Wertvorstellungen und Bedürfnissen und jenen Ihrer Mutter heraus. Werten Sie nicht, stellen Sie nur fest.
  5. Falls bei den ersten vier Punkten Fragen zur Person Ihrer Mutter aufgetaucht sind, stellen Sie sie Ihrer Mutter oder jemandem, der Ihre Mutter gut kennt.
  6. Erzählen und diskutieren Sie analog den ersten beiden Punkten die Geschichten der Beziehungen zwischen Ihrer Mutter und Ihrer Grossmutter und zwischen Ihrer Grossmutter und Ihrer Urgrossmutter.
  7. Füllen Sie im Gespräch mit diesen Frauen oder mit Menschen, die sie kennen oder kannten, Lücken in den Geschichten. Auch Briefe und Fotografien können helfen.
  8. Überlegen Sie, mit welchen Widerständen Sie, Ihre Mutter, Ihre Grossmutter, Ihre Urgrossmutter zu kämpfen hatten. Was hat all diese Töchter zu den Müttern gemacht, die sie wurden?

Klärung schafft Verständnis

Indem man sich mit diesen acht Punkten auseinander setzt, lernt man nicht nur die eigene Mutter besser kennen, sondern auch die ganze Mutter-Töchter-Kette einer Familie. Denn all diese Frauen und ihre Beziehungen zueinander prägen die Beziehung, die eine Frau mit ihrer eigenen Mutter hat. Die gewonnenen Informationen und das neue Bewusstsein helfen einer Frau, mit sich und ihrer Mutter ins Reine zu kommen.

Und egal, wie warm, kühl, nah oder distanziert das Verhältnis zu ihrer Mutter ist, irgendwann meldet sich ein Gefühl von Dankbarkeit. Denn die Mutter hat sie auf die Welt gestellt und ihr damit das Schönste geschenkt, das es gibt: das Leben.