Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

10.4.2003

Keine Angst vor Geistern

Wer nachts Angst vor bösen Kreaturen hat, verdrängt oft die eigenen dunklen Seiten. Stellen Sie sich den Gestalten.

Nina hat ein ganz spezielles Einschlafritual. Sobald das Licht aus ist, begrüsst sie «ihre Wesen». Sie hat dieses Ritual seit einiger Zeit. Sie hat damit ihre nächtliche Angst überwunden: Ausgerechnet dort, wo es am gemütlichsten ist, in ihrem eigenen Bett, hatte sie jede Nacht dieses unheimliche Gefühl, dass da im Dunkeln etwas lauerte, das ihr Böses antun wollte. In der Ecke. Hinter dem Vorhang. Unter dem Bett.

Nina begann, Bücher zum Thema Angst zu lesen. Sie lernte, dass Angst wächst, je mehr man versucht, ihr zu entfliehen. Tatsächlich: Indem sie sich nachts mit Schlaftabletten benebelte, das Licht brennen liess, zum Kühlschrank floh, wurde die Angst mit der Zeit immer grösser.

Bei Tageslicht üben

Nina las auch, dass Angst sich nur überwinden lässt, wenn man sich ihr aussetzt. Zuerst übte sie bei Tageslicht: Sie legte sich täglich ein paar Minuten lang ins Bett. Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich vorzustellen, wovor sie Angst hatte. Sie sah einen vagen, dunklen Schatten. Sie empfand eine riesige Angst vor dem Etwas, das in diesem Schatten lauerte.

Wenn die Angst zu gross wurde, machte sie die Augen auf und blickte aus dem Fenster. Sie sah den Himmel, die Bäume. Das war die Realität. Das böse Etwas, vor dem sie Angst hatte, fand nur in ihrer Vorstellung statt. Es war ein Produkt ihrer Fantasie. Sie merkte, dass sie eigentlich vor ihrer Fantasie Angst hatte. Warum baute ihre Fantasie ein so schreckliches Wesen?

Eines Nachmittags war es so weit. Sie lag mit geschlossenen Augen im Bett und flüsterte: «Komm zu mir!» Und da stürzte ein dunkles, struppiges, wildes Wesen auf sie, packte sie, biss sie ... in Gedanken wehrte sie sich, kämpfte, rang...

Es war eine unglaublich intensive Begegnung, so intensiv, dass sie nicht mehr zwischen sich und dem Wesen unterscheiden konnte. Ninas Herz klopfte – nicht aus Angst, sondern vor Aufregung.

Was als tägliche Übung begann, wurde zum nächtlichen Einschlafritual: Nina stellt sich ein Wesen vor – jede Nacht sieht es ein bisschen anders aus: wild, hässlich, majestätisch, weinerlich, tierisch, menschlich... Die Begegnung mit ihm ist mal aggressiv, mal sinnlich, mal liebevoll.

Figuren des Unbewussten

Ninas Fantasievorstellungen sprechen die Bildersprache der Träume: In den Figuren und Gestalten des Unterbewussten leben verdrängte Gefühle und Persönlichkeitsanteile auf, die problematisch, nicht akzeptiert, tabuisiert sind – wie Wut, Haltlosigkeit, Trauer oder Lust. Auch Nina verdrängt gewisse Anteile von sich selbst. Diese schob sie zeitweise so weit von sich weg, dass sie in ihrer Fantasie buchstäblich ausserhalb ihres Körpers landeten.

Und sie lauerten in der Ecke, hinter dem Vorhang, unter dem Bett. Denn sie wollten wieder zurück. Je länger Nina wegblickte, desto energischer meldeten sie sich, wuchsen zu einem bedrohlichen, riesigen, dunklen Schatten an. Erst als sie sich wagte, sie anzusehen, sich mit ihnen auseinander zu setzen, erst als sie lernte, sie zu verstehen, schrumpften sie wieder. Denn sie wollten Nina nichts Böses antun, sie wollten nur ihre Aufmerksamkeit.

Sie wollten zu ihr gehören, mit ihr leben. Denn sie sind ein Teil von ihr. Ohne sie wäre Nina kein vollständiger Mensch.

Lernen Sie Ihre nächtliche Angst kennen