Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

20.2.2003

Nur keine Angst

Wer schüchtern ist, hat Angst, negativ aufzufallen. Dagegen hilft, die eigenen Schwächen nicht so wichtig zu nehmen.

Das Mittagessen mit den Arbeitskollegen ist für Ingrid eine Qual. Jedes Mal, wenn sie jemand anspricht, wird sie knallrot. Wenn sie doch nur nicht so unbeholfen wäre! Sie bewundert ihre Bürokollegen Rolf und Lena. Rolf schmeisst mit seinen geistreichen Sprüchen die ganze Tischrunde. Und Lena ist immer so schick und souverän und hat jeden Mittag ein privates Rendezvous.

Was Ingrid nicht weiss: Lena vermeidet das gemeinsame Essen, weil sie sich so unattraktiv findet und sich den kritischen Blicken der Männer nicht aussetzen will. Und Rolf muss ständig beweisen, was er alles auf dem Kasten hat, weil er Panik davor hat, für dumm gehalten zu werden. Übrigens: Rolf und Lena bewundern Ingrid – für ihre Natürlichkeit.

Soziale Anlässe sind stressig

Ingrid, Rolf und Lena leiden alle unter dem Gleichen: Schüchternheit. Soziale Anlässe bedeuten für sie Stress. Sie spüren die Augen der anderen auf sich und haben Angst, negativ aufzufallen. Den Gedanken, dass sich ihre Schwächen zeigen könnten, finden sie peinlich. Sie haben Angst, die anderen könnten sie deswegen zurückweisen.

Oft sind diese Schwächen jedoch nur eingebildet: Ingrid etwa erscheint nicht unbeholfen, sondern natürlich, Rolf gilt nicht als dumm, sondern als geistreich, und Lena zieht keine abwertenden, sondern bewundernde Blicke an. Schüchterne Menschen haben also nicht mit ihrer Unzulänglichkeit zu kämpfen, sondern viel mehr mit ihren überhöhten Selbstansprüchen.

Nehmen wir an, Ingrid kommt zu dieser Erkenntnis. Fortan übt sie sich also darin, ihre Wahrnehmung zu «entzerren». Sie geht nun einfach einmal davon aus, dass die anderen genauso mit sich selbst beschäftigt sind wie sie selbst und dass die einzigen kritischen Blicke, die auf ihr lasten, ihre eigenen sind.

Sie beschliesst, nicht mehr Energie mit der Überlegung zu verschwenden, wie sie wirkt, und versucht, das Verhalten der Kollegen weniger auf sich zu beziehen.

Rolf etwa hat sich gestern dauernd geräuspert, als er mit ihr redete. Nur: War das wirklich, weil ihr rotes Gesicht ihn irritierte? Oder ist nicht eher seine Erkältung schuld? Und das vermeintlich herablassende Lächeln, mit dem Lena sie letzthin abfertigte – könnte das nicht das Lächeln einer Frau sein, die sich nicht traut, ein Gespräch zu beginnen?

Mehr auf andere achten

Ingrid wird sich bewusst, dass in ihrer Schüchternheit eins zu kurz gekommen ist: ihr Interesse für die anderen. Die haben ja auch ihre Schwächen und Unsicherheiten. Und die meisten Menschen empfinden sich in irgendeinem Bereich als schüchtern.

Am nächsten Tag blickt Ingrid neugierig in die Mittagsrunde. «Willkommen im Club der Schüchternen!», denkt sie sich und fühlt sich mit einem Mal ganz gut aufgehoben. Als Rolf sie anspricht, spürt sie zwar, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt. Sie sagt sich aber energisch: «Das ist nicht peinlich, sondern menschlich», und konzentriert sich voll auf ihre Unterhaltung mit Rolf. Dann nimmt sie erleichtert zur Kenntnis, wie sich die Hitze im Kopf langsam, aber sicher neutralisiert.

So bleiben sie entspannt