Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

13.2.2003

Trennung als Chance

Abschied nehmen fällt vielen schwer. Dabei bietet dieser Moment die Chance, die eigenen Gefühle besser zu erkennen.

Manchmal gehen geliebte Menschen einfach weg. Sie machen eine grosse Reise. Sie ziehen an einen fernen Wohnort. Sie nehmen eine neue Stelle an. Da kommt Trauer auf. Weil man meint, den anderen zu verlieren. Da kommt Angst auf. Weil man meint, man schaffe es nicht allein. Da kommt Wut auf. Weil einen der andere verlässt. Und schliesslich meldet sich die Liebe. Weil man plötzlich erkennt, was der andere einem bedeutet.

Kein Zweifel: Abschiednehmen ist mit einem Schwall von Gefühlen verbunden. Manch einer lässt es daher lieber ganz bleiben. Der Moment des Abschieds ist ihm zu unangenehm, zu wenig kontrollierbar. Ausserdem bleibt ihm, wenn er sich nicht verabschiedet, die Illusion, dass die Trennung gar nicht stattfindet.

Wer streitet, grenzt sich ab

Wenn jemand geht, ohne sich zu verabschieden, zeigt das also vor allem eins: dass der Abschied ihn überfordert. Ein Zeichen der Überforderung ist auch der von Wut begleitete Abschied: Wenn sich eine Person mit einem verkracht, bevor sie geht, zieht sie die Wut der Trauer vor. Denn Wut tut nicht so weh. Ausserdem hilft sie dabei, sich abzugrenzen, und macht die Trennung zumindest am Anfang einfacher. Welche Mutter hat das nicht erlebt, als sich ihre Kinder von ihr abnabelten?

Es gibt viele Strategien, mit Abschied umzugehen. Darum erfährt man beim Abschied nehmen vieles über sich, den anderen und die Beziehung. Da verabschiedet man sich etwa von einem Kollegen, und der bricht zusammen. Und man merkt erst jetzt, dass viel mehr Gefühle im Spiel sind, als er je zugegeben hat.

Zum Schluss echte Gefühle

Im Moment des Abschieds wird der Mensch oft ganz ehrlich. Plötzlich ist es möglich, die echten Gefühle zu zeigen. Denn die anschliessende Trennung schützt vor jeglichen Konsequenzen; man denke etwa an den berühmten ersten Kuss, den man sich erst am Flughafen zu geben traut, wenn der andere auf eine grosse Reise geht. Darin liegt eine Chance des Abschiednehmens: Im Angesicht der Trennung kommt man sich näher. Und so kann ein Abschied die Tür zu einer tieferen Beziehung öffnen.

Abschied als Neubeginn

Jeder Abschied ist auch ein Neubeginn; er hilft, alte Kapitel abzuschliessen und neue Kapitel zu öffnen. Wer einen Abschied nicht vollzieht, läuft Gefahr, in einem alten Kapitel hängen zu bleiben und nicht offen für das Neue zu sein. Doch um im Leben weiterzukommen, sind Abschiede nötig. Denn das Leben ist ein ständiger Ablauf von Abschied und Neubeginn; von der Geburt an, wenn das Baby sich vom Mutterleib verabschiedet, um die Welt zu begrüssen.

Die Angst vor dem Verlust des Alten und vor dem ungewissen Neuen ist oft der Grund für den fehlenden Abschied. Doch dabei hilft der Abschied gerade gegen diese Angst. Denn wenn man sich von einer Person gebührend verabschiedet, ehrt man sie, und man ehrt auch die Beziehung. Durch die starken Gefühle, die mit dem Abschied verbunden sind, intensiviert man die Beziehung.

Das Abschiednehmen hilft also, ein Stück der anderen Person in sich zu behalten: Wer sich verabschiedet, verliert nicht, er gewinnt. Derart bereichert, kann er sich mit kühnen Schritten ins Neue, Unbekannte vorwagen.

Richtig verabschieden