Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

6.2.2003

Reise zum neuen Selbst

Frauen um die fünfzig geraten oft in ein seelisches Tief. Die eigene Lebenserfahrung hilft, die Krise zu meistern.

Eva liegt bei Frau Beck auf dem Massagetisch und klagt ihr Leid. Sie ist fünfzig und steckt in einer tiefen Krise. Sie fühlt sich antriebslos, kann nicht schlafen und ist völlig verspannt. Frau Beck massiert gedankenverloren: «Fünfzig ... das war für mich auch nicht leicht. Ich fühlte mich uralt.» Jetzt sei sie 72 und «viel fitter». In der Tat strahlt sie eine frische, glückliche Gelassenheit aus. «Was ist Ihr Geheimnis?», fragt Eva.

«Ich denke, ich bin ganz einfach gern so alt, wie ich bin. Das Alter bringt eine wunderbare Lebensweisheit mit sich. Mit dreissig hetzte ich äusseren, vergänglichen Werten nach – ich dachte nur an das, was ich nicht hatte. Jetzt zählt nur noch das, was in mir steckt. Das, was bleibt. Ich habe mich noch nie so frei und so reich gefühlt. Ich konnte noch nie so viel geben. Es ist so erfüllend, zu geben.»

Lebenserfahrung weitergeben

Eva meint stirnrunzelnd: «Von Weisheit bin ich Lichtjahre entfernt. Was kann ich schon geben?» Frau Beck lächelt: «Das, was in Ihnen steckt. Auch in Ihrem Alter haben Sie schon eine gehörige Menge Lebenserfahrung. Überlegen Sie, was Sie gelernt haben, und drücken Sie es positiv aus: So dass Sie sich selbst und anderen damit weiterhelfen können. Hören Sie in sich hinein: Jetzt haben Sie endlich Zeit dazu. In den Wechseljahren klopfen Körper und Seele ganz heftig bei uns an und wollen Aufmerksamkeit. Darum sind die Wechseljahre eine wundervolle Chance, sich näher zu kommen.»

Wechseljahre als Chance

«Eine Chance? Ich finde, sie sind eine Krankheit», murrt Eva. Jetzt runzelt Frau Beck die Stirn: «Ja, die Pharmaindustrie findet das auch. Die schieben ja alle körperlichen und seelischen Verstimmungen auf die Hormone. Dabei ist deren Einfluss umstritten. Frauen in Ihrem Alter haben ja weiss Gott auch sonst genug Gründe für eine Krise: Die Kinder sind aus dem Haus, die Lebensaufgabe und die Beziehung zum Partner müssen neu definiert werden. Und dann zeigt der Körper gnadenlos, dass er altert. Mit all dem fertig zu werden, bedeutet Arbeit.»

Eva seufzt. Frau Beck tröstet sie: «Aber Sie haben ja so viel Zeit. Die Hälfte Ihres Erwachsenen-Lebens! Das Leben ist nicht grundlos so lang, wie es ist! Der Psychologe C.G. Jung hat einmal gesagt, dass auch der Lebensnachmittag einen Sinn und Zweck besitzen muss und nicht bloss ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein soll. Wagen Sie sich auf die Reise ins Ungewisse. Verabschieden Sie sich von den Werten der Jugend. Finden Sie Ihre innere Wirklichkeit. Ihre innere Schönheit. Da wird Ihre äussere Hülle zweitrangig.»

Finden Sie Ihr Vorbild

Als Eva die Praxis verlässt, hat sie begriffen, was Frau Beck mit dem «Geben» meint. Die ältere Frau hat ihr nämlich soeben ein bisschen Lebensweisheit weitergegeben. Eva entscheidet, dass sie Frau Beck zu ihrem Vorbild machen wird.

Im Tram schaut sie die Gesichter der älteren Menschen an. Was geht wohl in ihnen vor? Eva ist plötzlich gespannt, was ihr die nächsten Jahrzehnte bringen werden. Sie verspürt auf einmal so etwas wie Lust auf ihre Reise.

Definieren Sie sich neu

Buchtipp

Regine Schneider: «Wir haben noch viel vor»
Fischer, 2000