Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

23.1.2003

Mit Genuss allein sein

Wer lernt, sich allein wohl zu fühlen, überwindet seine Einsamkeit. Zuerst muss man sich selbst gut kennen lernen.

Tom Hanks muss im Film «Cast Away» vier Jahre auf einer gottverlassenen Insel überleben. In seiner Einsamkeit malt er einem angeschwemmten Ball ein Gesicht auf und gibt ihm einen Namen. Der Ball wird zu seinem Gesprächspartner, zu seinem Freund. Diese Geschichte veranschaulicht die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in der totalen Verlassenheit eine Atmosphäre der Liebe und Geborgenheit zu schaffen.

Was ihm dabei hilft, ist seine Fantasie. Erst wenn der Mensch allein ist, kann sie so richtig frei fliessen. Jeder Schriftsteller, jeder Maler weiss: Ohne die Ablenkung durch andere Menschen findet er den besten Zugang zu den kreativen Quellen seines Unbewussten. Und da verbirgt sich ein unglaublicher Schatz. «Allein» – das Wort drückt diesen Reichtum, dieses «alles in einem» aus: Der Mensch ist in sich selbst eine kleine Welt.

Nachts besonders anfällig

Doch der Reichtum ist eine Medaille mit Kehrseite. Die zeigt sich oft in der Nacht: Wer kennt sie nicht, die Angst vor den im Dunklen lauernden Gestalten, vor den Geistern der Träume? Auch sie sind Produkte der Fantasie. Wenn der Mensch allein ist, ist er sich selbst ausgesetzt. Niemand ist da, der ihn vor den Seiten in ihm ablenkt, die ihm unangenehm sind. Genau diese Ablenkung ist es, die viele suchen, wenn sie ihren Terminkalender zum Bersten fällen, von einer Liaison zu nächsten flüchten, in langweiligen Zweckbeziehungen verharren.

Sie fliehen vor sich selbst zu den anderen, weil sie keine Nähe zu sich selbst zulassen. Sie geben sich nicht die Chance, sich selbst kennen zu lernen. Kein Wunder, dass sie mit sich selbst nichts anfangen können: Sie sind sich fremd. Sie brauchen die anderen, damit diese ihnen die Geborgenheit und Liebe geben, die sie sich selbst nicht geben können, weil die Beziehung, die sie mit sich selbst leben, gestört ist.

Wer aber von sich zu den anderen flieht, fühlt sich unter ihnen genau so einsam, ja noch einsamer, als wenn er allein ist. Er spärt, dass keine richtige Nähe, keine tiefen Beziehungen möglich sind. Nicht in erster Linie, weil die anderen keine Nähe zulassen würden, sondern weil er selbst keine Nähe spüren kann. Erst wenn der Mensch zu sich selbst findet, kann er dieses Gefühl überwinden. Und das tut er am besten, wenn er nicht durch andere abgelenkt wird. Wenn er allein ist. In anderen Worten: Der Weg aus der Einsamkeit führt über das Alleinsein.

Es muss keine Insel sein

Das heisst nicht, dass der Mensch sich wie Tom Hanks auf eine einsame Insel verziehen soll. Es heisst viel mehr, dass er die Zeit mit sich selbst als ebenso wertvoll anerkennt wie die Zeit mit anderen. Dass er den Mut aufbringt, auf Entdeckungsreise zu gehen, dieses «alles» in sich kennen zu lernen. Dass er diese Welt mit allen ihren Facetten lieben lernt.

«Liebe deinen N«chsten wie dich selbst», sagte schon Jesus Christus und meinte damit, dass man sich selbst ebenso lieben soll wie die Mitmenschen. Selbstliebe ist die Voraussetzung zu gesunden Beziehungen mit anderen Menschen. Selbstliebe ist das beste Mittel gegen die Einsamkeit.

Üben Sie das Alleinsein

Buchtipp

John Selby: «Die Kunst, allein zu sein»
DTV, 2001