Annette Bischof-Campbell: Ratgeber Psychologie

9.1.2003

Ruhig Blut bei Kritik

Wer kritisiert wird, reagiert oft abwehrend. Dabei kann daraus ein Gespräch entstehen, bei dem beide gewinnen.

Mario kann es nicht mehr hören. Dauernd hackt Luise auf ihm herum: Er käme seinen elterlichen Pflichten nicht nach, beteilige sich ungenügend am Haushalt, kümmere sich zu wenig um die Ehe. Wenn er sich wehrt, kommt es zum Krach. Denkt Mario dann noch daran, Leonies Wünschen entgegenzukommen? Nein. Im Gegenteil.

Kritik ist ein scheinbar unvermeidbarer Bestandteil in jeder Beziehung – vor allem in Langzeitbeziehungen, in denen die positiven Seiten des Partners leider allzu oft als gegeben angenommen werden und nur noch das Negative auffällt.

Schlagabtausch mit Worten

Kritik wird oft in gefühlsgeladenen Momenten geäussert und kommt undiplomatisch und unfair daher. Die logische Reaktion des Empfängers ist, in Abwehrhaltung zu gehen: Man kontert mit Gegenkritik, es kommt zu einem Schlagabtausch, in dem es nur noch darum geht, Oberhand zu gewinnen.

Natürlich gäbe es auch konstruktivere Arten, Kritik zu äussern, aber da sie eben oft ungeschickt hervorgebracht wird, empfiehlt es sich, zu lernen, mit ihr umzugehen. Denn auch wenn sie so klingen mag, als sei ihr Ziel, dem Empfänger zu schaden, so ist dies meist nicht der Fall. Sie ist vielmehr der unbeholfene Ausdruck eines persönlichen Notstandes, der ernst zu nehmen ist: Jede Kritik hat ihren Grund, und darum sollte man ihr nicht mit Abwehr, sondern mit Aufmerksamkeit begegnen. Bewusst zuhören, Fragen stellen, bis man die Ursachen, den grösseren Zusammenhang, in den sie eingebettet ist, versteht – bis man den Kritisierenden versteht. Verständnis für eine Person aufzubringen, heisst, sie zu akzeptieren und zu respektieren – ihre Haltung, ihre vielleicht unsensible Ausdrucksweise, ihren Standpunkt.

Es empfiehlt sich, danach eine Verschnaufpause einzulegen, in der man der Kritik in aller Ruhe nachfühlt und seinen eigenen Standpunkt definiert. Erst dann sollte man dem anderen mitteilen, in welchen Punkten man anderer Meinung ist. Und dies nicht als Kritik, als Vorwurf oder Herabsetzung des Kritisierenden formulieren. «Es geht vielmehr darum, die Meinungsunterschiede mit so viel Achtung wie möglich für die abweichende Perspektive des anderen deutlich herauszuarbeiten», so die amerikanische Psychologin und Autorin Harriet Lerner. Ziel ist nicht, den anderen zu überzeugen, Ziel ist vielmehr, auf einen Kompromiss hinzuarbeiten, der die Standpunkte beider Beteiligten respektiert.

Kompromisse finden

Das setzt die Bereitschaft voraus, dem Gegenüber entgegenzukommen: Auch wenn Kritik in Übertreibungen eingebettet ist, ist meist ein Fünkchen Wahrheit daran. Wer Kritik empfängt, sollte nach diesem Fünkchen suchen. Und sich als Erstes dafür entschuldigen. Es ist ein Zeichen der Stärke, wenn man Schwächen zugeben kann – und ganz davon abgesehen, vermag ein ehrlich geäussertes «Da hast du Recht» auf faszinierende Weise, dem Gegenüber den Wind aus den Segeln zu nehmen – und damit den Grundstein für ein konstruktives Gespräch zu legen.

Tipps zum Umgang mit Kritik